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Indem nach christlicher Lehre Christus die Menschenkinder zu Kin-
dern Gottes macht, indem er ihnen das göttliche Leben m i t t e i l t ,
ist er gleichsam die I d e e der Menschheit, insbesondere der Kir-
che, die sein Leib ist
1
.
Ähnlich die gesamte vorchristliche und christliche L o g o s -
l e h r e .
Nun zu den philosophischen Zeugnissen vorplatonischer Ideen-
lehre. Aus ältester Zeit, vielleicht dem 3. Jahrtausend v. Chr., ist
uns das chinesische I-Ging erhalten, das erst kürzlich durch die
verdienstvolle Übersetzung Wilhelms erschlossen wurde. Es weist
auf gestaltende Urwesen und Musterbilder der Dinge hin
2
. Des-
gleichen Laotse. Bei L a o t s e wird das Tao, die Gottheit, selber
oft Urbild genannt: „Wer das Große Urbild festhält“, heißt es im
35. Spruch vom Tao
3
; der 14. Spruch nennt es: „Des Gestaltlosen
Gestalt, des Bildlosen Urbild.“ Im 4. Spruch steht, daß das Tao frü-
her war als „der Herr der Urbilder“, der Himmel mit seinen Stern-
bildern; die Sternbilder ihrerseits gelten in China seit jeher als
Vorstellungen der Ideen. Ferner heißt es im 21. Spruch: „Tao schafft
die Dinge, nur aus Urdrang, nur aus Ursprünglichkeit. O Ur-
sprünglichkeit, o Urdrang! In Seiner Mitte wesen Bilder: o Ur-
drang, o Urdrang, o Ursprünglichkeit! In Seiner Mitte weset der
Stoff: o Verborgenheit, o Finsternis! In Seiner Mitte wesen die
Samenkräfte: diese seine Samenkräfte verwirklichen sich voll- /
kommen“. Urpotenzen der Gestalten, der Stoffe (und damit des
Raumes) und des Lebens bestehen sonach als ein dreifaches Ideen-
reich vor der Schöpfung in Gott.
Endlich aber, und darauf wäre besonderes Gewicht zu legen, ist
den vorplatonischen Theologien, Philosophien Griechenlands selbst
der Grundgedanke der Ideenlehre nicht fremd! Dies war auch be-
reits Willmann, einem gründlichen Kenner des Altertums, klar.
Willmann sagt: „In der mystischen Theologie hat auch die Ideen-
lehre ihre Hauptwurzel, während ihre Nebenwurzeln in den so-
1
Vgl. Matthias Joseph Scheeben: Die Mysterien des Christentums, nach We-
sen, Bedeutung und Zusammenhang dargestellt, bearbeitet von Arnold Rade-
macher, 3. Aufl., Freiburg 1912, S. 336 ff., 346, 371, 393, 462 und öfter.
2
Richard Wilhelm: I-Ging (Das Buch der Wandlungen), 2 Bde, Jena 1924.
3
Sämtliche angeführten Sprüche aus dem Chinesischen übersetzt von Erika
Spann-Rheinsch (bisher nicht veröffentlicht).