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Bedenkt man, welches Weltbild sich daraus für den Gläubigen er-

gab, so darf man mit Recht sagen: Jeder Polytheismus ist bereits

eine religiöse Ideenlehre. Die iranische Fravasaylehre („Fravurti“

oder „Feruer“

1

), die römische Geniuslehre, die germanische Fylgia-

lehre

2

, die allverbreitete Lehre vom / Schutzgeiste überhaupt,

des besseren Selbstes der Menschen — was sind sie anderes als die

Annahme übersinnlicher Wesen, die den irdischen Wesen und Din-

gen vorstehen? Und was heißt dies „Vorstehen“ anderes als: die

Annahme von Ideen? Wenn Thaies, wie uns Platon berichtet

3

,

spricht: „ A l l e s i s t m i t G ö t t e r n e r f ü l l t “ , so hat das

allgemein religiösen und philosophischen Sinn. Wir dürfen daher,

ohne zu weit zu gehen, sagen, daß damit bereits der p h i l o s o -

p h i s c h e Gedanke einer Ideenlehre ausgesprochen ist, allerdings

noch nicht kritisch und begründend, dafür aber mit der Selbst-

verständlichkeit des nicht angefochtenen religiösen Bewußtseins.

Gar manche mythologische und religiöse Begriffsbildung ließe

sich dafür anführen. Ich beschränke mich auf einige wenige.

Da ist, um damit zu beginnen, die schöne Vorstellung unserer

Altvordern von Wotans Ring D r a u p n i r, dem Traufner, Tröpf-

ler, von dem jede neunte Nacht neun Ringe abtropfen. Dieser Ring

ist die Idee des Ringes, er ist ein schaffendes, selber göttliches Wesen

an der „Hand“ Wotans, das heißt ein Schöpfergedanke des allum-

fassenden Gottes.

Da ist weiter die erhabene Lehre der altgermanischen Mythologie

von der Weltesche. Die W e l t e s c h e h a t i h r e W u r z e l n

i m H i m m e l , i h r e W i p f e l a u f d e r E r d e — auch die

Ideen sind die himmlischen Wurzeln der irdischen Dinge, diese

gleichsam die Wipfel jener Wurzeln. Man ist versucht, hier nicht

mehr reine Religion zu sehen, sondern schon Theorie, vielleicht ge-

heime Priesterlehre, darin zu entdecken. Daß der Baum von oben

1

„Fravasay, Bezeichnung für ein jedem... Wesen eigenes unsterbliches

E l e m e n t . . s a g t F r i t z W o l f f in der Stellenlese (S. 448) zu dem von

ihm übersetzten „Avesta“, Die heiligen Bücher der Parsen, Berlin 1924.

2

Fylgia (altnord. Fylgjur), soviel wie Folgegeist, Folgerin, der Lichtgeist,

der den Menschen führende Schutzgeist, wie er in den isländischen Sagas wieder-

holt vorkommt. — Vgl. Eugen Mogk: Fylgen, in: Johann Hoops’ Reallexikon der

Germanischen Altertumskunde, Bd 2, Straßburg 1911—19.

3

Hermann Diels: Die Fragmente der Vorsokratiker, 4. Aufl., Berlin 1922,

Fragment 22 und 23.