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Nur durch dieses Erlebnis wurde er erst ganz zum wahren Gründer
der Romantik.
Ein anderer Teil der Führungskunst ist die S c h e i d u n g u n d
M a h n u n g . Der schöpferische Kritiker, welcher das Wertvolle
vom Wertlosen scheidet — er ist das mahnende Gewissen, ist eine
der Führungen, die der Menschheit zuteil wird. Katharina von
Siena, Savonarola, Abraham a Sancta Clara sind solche Gestalten.
Die Brüder Schlegel setzen als Scheidekünstler und Mahner das Werk
des Novalis, das schon Lessing, Herder und Goethe begründet hat-
ten, fort und schaffen den Kanon, der noch heute die Geschichte der
Dichtkunst leitet und das allgemeine Urteil bestimmt.
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In den Ebenen des Handelns und Stiftens (Organisierens) tritt
dann noch eine dritte Art der Führung hinzu, eine Art, die aller-
dings schon auf den Weg der Vermittlung hinweist und nicht mehr
von der Fülle der Eingebung lebt. Die praktische Wendung, das
endgültige Einführen des schöpferischen Gedankens und Werkes
in den Gang der Kultur: die U m g e s t a l t u n g s k u n s t o d e r
V e r b e s s e r u n g s k u n s t , in besonderen Fällen „Reformation“
genannt. Sie gehört zugleich zum Wesen wahrer Politik und ist,
technisch gesehen, nach Bismarck die „Kunst des Erreichbaren“, die
„Kunst des Möglichen“. Das Technische ist aber nur eine Seite der
Politik. Die Politik lebt darüber hinaus von der Idee, von der Er-
leuchtung und Rangbestimmung; daraus nährt sie sich und bildet
sie sich. Darum: Während für den kleinen Politiker nur ein kleiner
Teil der Idee verwirklichbar und jeweils „möglich“ ist, ist für den
größeren Politiker ein größerer Teil verwirklichbar. Die Idee treibt
und überragt sie alle. Die „Kunst des Möglichen“ heißt daher: Euch
Kleinen ist nur eine kleine Umbildung der Wirklichkeit möglich;
den Größeren wären größere Umbildungen der Wirklichkeit mög-
lich; Alexander der Große, Karl der Große, Otto der Große haben
große Umbildungen, kleine Herrscher und Politiker nur kleine voll-
zogen.
Die Aufgabe schöpferischer Führung wird um so unlösbarer, die
Unbegabtheit der Menge um so gefährlicher, ihre Verführung durch
die Unholde um so unüberwindlicher, je größer und gleichartiger,
homogener die Menge ist. Der Führer soll nicht der Menge, sondern
der Gemeinschaft gegenüberstehen. Darum sind alle autoritativen
Zeitalter den Weg gegangen, die Menge in viele kleinere Teilmen-