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Einleitung

Jede Philosophie ist genötigt, das Gemeinschaftsleben der Menschen auf seinen

Grund zurückzuführen und wird damit zur Gesellschaftsphilosophie, mag sie diese

Lehre nun — nach dem jeweiligen Kernstücke — „Moralphilosophie“ oder „Staats-

philosophie“ oder „Rechtsphilosophie“ oder „Geschichtsphilosophie“ oder „An-

thropologie“ nennen. Selbst die empiristischen Begriffsgebäude der Hume und

Locke und der Sophisten können nicht umhin, dieser inneren Notwendigkeit zu

folgen und das Rechts-, Staats-, Sitten- und Wirtschaftsleben der Menschheit

in den Kreis ihrer philosophischen Lehrbegriffe zu ziehen.

Andererseits sind gerade die letzten beiden Menschenalter mit ihrem heißen

Drange nach strenger Wissenschaft bestrebt, keine Gesellschaftsphilosophie anzu-

erkennen, sondern bei den erfahrungsmäßigen Gesellschaftswissenschaften, näm-

lich der Gesellschaftslehre (Soziologie), Staatswissenschaft, Rechtswissenschaft,

Wirtschaftswissenschaft,

Völkerkunde,

Statistik,

Religionsgeschichte,

Kunstge-

schichte, Kulturgeschichte usw. zu bleiben. Ist das möglich? Wir müssen es vernei-

nen. Denn alles gesellschaftswissenschaftliche, rechtswissenschaftliche, geschichts-

wissenschaftliche und sogar wirtschaftswissenschaftliche Denken, möge es noch

so sehr auf reine Zergliederung der Tatsachen beruhen, führt, wie sich zeigen

wird, notwendig zu p h i l o s o p h i s c h e n F o l g e r u n g e n . Und diese Fol-

gerungen hinwieder erweisen sich als die geheimen p h i l o s o p h i s c h e n

V o r a u s s e t z u n g e n jener scheinbar „rein erfahrungsmäßig“ betriebenen Ein-

zelwissenschaften. — Und andererseits ergeben sich, wie natürlich, jene Gedanken,

die vom gesellschafts- und wirtschaftswissenschaftlichen Standpunkte aus als

philosophische Folgerungen erscheinen, auch aus rein philosophischen Zusam-

menhängen wieder. Auch von da aus erscheinen sie als die philosophischen Vor-

aussetzungen des angeblich „voraussetzungslosen“, weil „rein erfahrungsmäßigen“

gesellschafts- und wirtschaftswissenschaftlichen Denkens.

Es g i b t k e i n g e s e l l s c h a f t s - u n d w i r t s c h a f t s w i s s e n -

s c h a f t l i c h e s D e n k e n , d a s n i c h t z u p h i l o s o p h i s c h e n F o l -

g e r u n g e n f ü h r t e ; u n d d a r u m a u c h u m g e k e h r t k e i n e s , d a s

n i c h t , u n v e r m i t t e l t o d e r v e r m i t t e l t , u n t e r p h i l o s o p h i -

s c h e n V o r a u s s e t z u n g e n s t ü n d e . Wo Gesellschafts- und Wirtschafts-

wissenschaft, dort ist auch Gesellschaftsphilosophie. Die Gesellschaftsphilosophie

ist zuletzt auch für jene unausweichlich, die sie als strenge „Fachleute“ gerne

ablehnen möchten und die es bei der bloßen Tatsachenforschung, der bloßen

„Induktion“ bewenden lassen möchten. Es g i b t a b e r k e i n e b l o ß e

„ T a t s a c h e n f o r s c h u n g“, weder in der allgemeinen Gesellschaftslehre (So-

ziologie) noch in der Staatslehre, Rechtslehre, Wirtschaftslehre, noch in einer

anderen gesellschaftlichen Einzelwissenschaft. Denn die „Tatsachen“ der Gesell-

schaft und Wirtschaft — z. B. „Staat“ oder „Recht“, „Volkstum“ oder „Wettbe-

werb“ oder „Fortschritt“ — sind keine Kieselsteine zum Greifen, keine sinnlichen

Dinge zum Messen und Wägen, keine bloßen Netzhautbilder; nur durch Verstan-

destaten entstehen sie, nur durch nachschaffende Verstandestaten sind sie darum

auch festzustellen, das heißt aber nur durch T h e o r i e ! Und daß theoretisches

Denken in den Geisteswissenschaften überall seine philosophischen Vorausset-

zungen hat, ist unwidersprechlich.

Ohne Sozialphilosophie, sei sie nun bewußt oder unbewußt, Gesellschafts-

und Wirtschaftswissenschaft zu treiben ist ebenso unmöglich wie der Schatten