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schen sind zur Erhaltung seiner selbst und zur Teilnahme an anderen gebildet.
Auch die Mutterliebe, die Gerechtigkeit, die Wohlanständigkeit, die Religion
sind Formen der Humanität. So groß die Einflüsse der Umwelt, die Herder
untersucht sind, die Humanität setzt sich überall durch. „Humanität ist der
Zweck der Menschennatur.“ Herder erörtert die E i n h e i t d e s M e n s c h e n -
g e s c h l e c h t e s und bespricht den G a n g d e r G e s c h i c h t e von China
und Babylon an bis zur Gegenwart. — Wir möchten daraus zwei Leistungen
besonders hervorheben: erstens / die Entdeckung des Volkstums; zweitens die
Erkenntnis des Eigenwertes der Völker und Kulturen, welcher (wenn auch nicht
ohne Widerspruch) dem Gedanken des Fortschrittes und der Humanität zur
Seite tritt. Beide Erkenntnisse wurden auch auf dem Felde der Kunst von Herder
begründet
1
. Das Menschengeschlecht ist bestimmt, durch mancherlei Stufen der
Kultur hindurchzugehen, aber das, was später Ranke mit dem geflügelten Worte
ausdrückte „jede Epoche ist unmittelbar zu Gott“ (sie ist nicht durch den spä-
teren Fortschritt entwertet), bricht bei Herder bereits durch.
Die Zweckgesetze sind Herder zugleich Naturgesetze. „ D i e G e s e t z e
d e r W i e d e r v e r g e 1 t u n g [ i n d e r G e s c h i c h t e ] n i c h t a n d e r s
a l s d i e G e s e t z e d e r B e w e g u n g b e i d e m S t o ß d e s k l e i n s t e n
p h y s i s c h e n K ö r p e r s . . . “ s i n d e i n s
2
— ein echt aufklärerischer Ge-
danke, den man niemals aus den Augen verlieren darf.
4. Auguste Comte
3
Comte, ein Schüler des Grafen S a i n t - S i m o n , ist der Be-
gründer des „Positivismus", jener Spielart des Empirismus, die alle
Fragen nach dem inneren Sinnzusammenhange und Wesen der
Dinge nicht als Gegenstände des Wissens gelten läßt. Comte ist vor
allem von seinem allgemeinen Bestreben her zu verstehen, das Ver-
hältnis der Wissenschaften zueinander zu klären und dabei das ge-
samte Wissen als ein Gebäude von Naturwissenschaften zu begrün-
den. Die höchste aller Wissenschaften ist ihm die Gesellschaftslehre,
weil sie den „kompliziertesten“, „komplexesten“ Gegenstand hat.
Daher ist Comtes Geschichtsphilosophie nur von seiner Gesell-
schaftslehre her, die er unter dem von ihm erfundenen Namen „So-
ziologie“ entwickelte, zu verstehen. Sein Werk kann als die Voll-
endung der Gesellschafts- und Geschichtslehre der Aufklärung be-
zeichnet werden.
1
Siehe Johann Gottfried Herder: Stimmen der Völker in Liedern, Leipzig
1778—1779 (= Reclams Universalbibliothek, Bd 1371—73).
2
Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784—87),
Bd 15, S. 5.
3
Auguste Comte: Cours de philosophie positive, 6 Bde, Paris 1830—1842,
daraus Bd 4—6, deutsch von Valentine Dorn unter dem Titel: Soziologie, 3 Bde,
2. Aufl., Jena 1907.