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und Berührungen untereinander sind rein äußerlich. Kulturdurchdringungen im
geistigen Sinne gibt es nicht; (3) jede Kultur durchläuft folgende Entwicklung:
Kindheit; Jünglingsalter; Mannesalter; Greisen- / alter; Tod; (4) die Hauptauf-
gabe der Geschichtsschreibung ist, eine „Morphologie der Weltgeschichte“ zu
geben. Das geschieht hauptsächlich dadurch, daß man die „Gleichzeitigkeiten“
der einzelnen Kulturen herausfindet und einander gegenüberstellt. Jede Kultur
habe nämlich nicht nur ihre Kindheit, ihr Jünglingsalter usw., sondern auch
alle einzelnen Erscheinungen, Kennzeichen und Gestaltungen, die zu jedem
Zeitalter gehören: Jede Kultur hat ihre Ritterzeit, ihren Minnesang, ihre Mystik,
ihre Reformation. Sie hat auch die einzelnen Träger der entscheidenden Wen-
dungen und Ereignisse. Polyklet und Bach z. B. stehen je in ihrer Kultur an
derselben Stelle mit derselben Aufgabe, sie sind „gleichzeitig“. „Polyklet und
Bach sind Zeitgenossen“
1
. — (5) Spengler unterscheidet acht große Kulturent-
wicklungen, in jeder davon gibt es alle Zeitalter und alle einzelnen „Gleich-
zeitigkeiten“. — Infolge dieser strengen Gesetzmäßigkeit gibt es nach Spengler
absolute Vorausbestimmung der noch nicht abgelaufenen Zeitalter. — Man
sieht, daß die Laplacische Weltformel auch im 20. Jahrhundert nicht vergessen
ist.
Die Wirkung Spenglers liegt nicht nur an seinem hinreißenden Stil und
seinen genialischen, einprägsamen Schlagworten, wodurch er das heutige Ge-
schlecht zu neuer Geschichtsbetrachtung anregte, sondern noch mehr an der
Untergangsstimmung, die besonders nach dem Kriege im deutschen Volke
herrschte. E i n Verdienst kommt Spengler zweifellos zu, daß er dem Fort-
schrittgedanken in der Fachwissenschaft wie in den breiten Massen mit Erfolg
entgegentrat. Aber andrerseits steckt Spengler noch gänzlich in der Aufklärung.
Seine Behauptung unverbrüchlicher biologischer Naturgesetzlichkeit der Ge-
schichtsabläufe ist rein naturalistisch. Auch bei Spengler kann der gleiche Wider-
spruch wie bei Darwin und Marx nicht vermieden werden: bei diesen soll ein
Mechanismus dem Fortschritt dienen, also zugleich mechanisch und zweckhaft
(teleologisch) sein; bei Spengler soll der biologisch-mechanische Naturverlauf der
Altersstufenfolge ebenfalls die innerlich sinnvollen zweckvollen Kulturen mit
ihren geistigen Reichtümern hervorbringen. In beiden Fällen sind die Wider-
sprüche grundsätzlich die gleichen. — Seine „Gleichzeitigkeiten“ sind im Ganzen
wie im Einzelnen gewaltsam und willkürlich. Ferner sind die Kulturen in Wahr-
heit einander nicht fremd; sie verstehen einander, sie können sich durchdringen.
Über die Einheit des Menschengeschlechts und die Kulturdurchdringungen werden
wir später zu reden haben. Als Philosoph ist Spengler über geistvolles Halb-
wissertum kaum hinausgekommen.
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9. Rückblick
Vergleichen wir die naturalistischen Lehrgebäude, so finden wir
sie überall dadurch gekennzeichnet, daß sie das geschichtliche Ge-
schehen, mehr oder weniger klar bewußt und folgerichtig, als Na-
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Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes, Bd 1, 1. Aufl., Wien
1918, S. 145; oft auch nur: Frühzeit, Aufstieg, Niedergang, siehe Bd 1, S. 149
und öfters.