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welchem die Dinge hervorgebracht werden, und dem „Wege nach

aufwärts“, auf welchem sie wieder in sich zurückkehren, gleicht der

Vorstellung von Ausatmen und Einatmen. Eine verwandte ge-

schichtsphilosophische Lehre, welche uns bei den Germanen in der

Gestalt der Einheriersage entgegentritt, finden wir ebenso bei In-

dern und Iranern wieder. Die gefallenen Helden kämpfen nach ger-

manischer Vorstellung bei der Götterdämmerung an Wotans Seite

gegen das Heer der finsteren Hel. Es ist das Wesen des Menschen,

an der Seite der guten Götter gegen die bösen Unholde zu kämpfen.

Die gleiche Auffassung begegnet uns bei den Indern. In der Sakun-

tala z. B. tritt der Held an der Seite der Götter gegen die Dämonen

kämpfend auf. Der Kampf zwischen Ahuramazda (Ormuzd) und

Ahriman, in welchem der Mensch eine Wahl / treffen muß, steht im

Mittelpunkte der Geschichtsauffassung des Zarathustra.

In den Sinnbildern des Weltenfeuers, der Götterdämmerung, des

Einheriertums haben wir Gedanken über das Schicksal der Welt

und des Menschen, über Schuld und Reinigung, über den Kampf

des Guten und Bösen und das Eingreifen der Gottheit selbst in

diesen Kampf vor uns, die im Kerne für jede idealistische Ge-

schichtsphilosophie verbindlich sind.

Ferner liegt darin eine Ablehnung des Fortschrittsbegriffes. Nicht

Fortschritt ist darnach der Sinn der Weltentwicklung, sondern Ent-

faltung des menschlichen Wesens, Verstrickung in Schuld und die

Reinigung von ihr.

2. Die christliche Geschichtsauffassung. Augustinus

Die Vorstellung, daß die Gottheit in das irdische Geschehen ein-

greift:, ist allen Religionen gemeinsam. Aber keine hat den Eintritt

des Ewigen in das Zeitliche so tief aufgefaßt wie das Christentum.

Ihm ist das Erscheinen des Heilandes der Mittelpunkt des Welt-

geschehens.

Die erste ausgeführte christliche Geschichtsphilosophie finden wir

bei A u g u s t i n u s

1

. Wir können in seinem Gedankengebäude

als die entscheidenden Punkte hervorheben: die grundlegende Be-

1

Aurelius Augustinus: De Civitate Dei (410—428), deutsch von Karl Völker

unter dem Titel: Der Gottesstaat, Jena 1923 (= Die Herdflamme, Bd 4).