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deutung der Gerechtigkeit; den Gegensatz des Gottesreiches und
Erdenreiches, ferner die Auffassung des Ganges der Geschichte nach
der Weise der Schöpfungstage in Verbindung mit dem Begriffe der
Gnadenwahl, und endlich die Einheit des Menschengeschlechts.
Wer Gott nicht dient, sagt Augustinus, kann auch nicht g e r e c h t sein
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.
„Was sind Reiche (regna) ohne Gerechtigkeit andres als große Räuberhaufen?“
(latrocinia).
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Dem Gegensatz von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit entspreche der des
G o t t e s r e i c h e s u n d d e s E r d e n r e i c h e s , der civitas dei und der civitas
terrena oder diaboli. Das Gottesreich ist die Gemeinschaft der Guten (bei Augu-
stinus oft mit der Kirche einerlei), das Erdenreich die Gemeinschaft der Bösen
(oft, aber nicht grundsätzlich mit dem Staat einerlei). Das letztere ist das Reich
der Selbstliebe, das Gottesreich das der Gottesliebe. Beide Reiche sind schon in
der Geisterwelt vorgebildet. Das Erdenreich wird gegründet durch den Sünden-
fall; zum erstenmale verwirklicht durch Kain; am mächtigsten ausgebildet durch
den heidnischen Staat, besonders durch das Römerreich. — Der Gegensatz beider
Reiche durchzieht alle Geschichte.
Der G a n g d e r G e s c h i c h t e wird von Augustinus in sieben Weltzeiten
eingeteilt, welche den Schöpfungstagen entsprechen. Der erste Tag der Geschichte
reicht von Adam bis zur Flut; der zweite Tag bis zu Abraham; der dritte Tag
bis zu David; der vierte Tag bis zur babylonischen Gefangenschaft; der fünfte
Tag, die Mitte der Geschichte, bis zu Christus; der sechste Tag ist der Tag der
Kirche; der siebente ist der Tag der Ruhe Gottes und der Menschen nach der
Auferstehung und dem Gerichte. Dann werden die Bösen abgesondert, sie kön-
nen keinen Staat mehr bilden, denn dieser war nur dadurch möglich, daß die
Guten unter den Bösen weilten, daß das Gottesreich den irdischen Staat durch-
drang. Nun offenbart sich die Herrlichkeit Gottes, da die Zahl der für den
Gottesstaat Bestimmten voll sein wird ( G n a d e n w a h l ) . Zu dieser Einteilung
der Geschichte kommt aber eine andere nach den drei Lebensaltern: Jugend (vor
Christus), Reife und Alter (nach Christus).
Im Gange der Geschichte wird die E i n h e i t d e s M e n s c h e n g e -
s c h l e c h t e s in den Vordergrund gerückt, die Eigenart der Völker tritt als
Eigenwert nicht zutage.
Das Große an der Geschichtsphilosophie des Augustinus ist, daß
der Kampf des Guten und des Bösen im Vordergrunde steht. Und
hierin schließt sie sich völlig dem germanischen, iranischen und indi-
schen Gedanken des Einheriertums an. In neuzeitlichen Worten
kann man auch sagen, die Augustinische Geschichtsphilosophie sei
von dem einen Grundgedanken erfüllt: Es ist etwas in der Welt,
das nicht sein soll. Der heutige Mensch, gewohnt, die Welt als ein
physikalisches Kabinett zu betrachten, in dem alles nach Natur-
notwendigkeiten zugeht, muß sich anstrengen, / diesen Gedanken
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Aurelius Augustinus: De Civitate Dei, Buch 19.