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III. Den Prozeß. Damit beginnt der Weg zum wahren Gott. Die Mytholo-
gien, die im „Prozeß“ entstehen, sind wie gesagt, rassen- und völkerverbindend.
N a c h S c h e l l i n g w i r d e i n V o l k e r s t d u r c h s e i n e M y t h o -
l o g i e z u m V o l k e . Der Hellene wurde erst Hellene, der Ägypter erst
Ägypter mit seiner Götterschau. „Nicht durch seine Geschichte ist ihm [einem
Volke] seine Mythologie, sondern umgekehrt ist ihm durch seine Mythologie
seine Geschichte bestimmt. . .“
1
Ein ü b e r w e l t l i c h e r P r o z e ß a l s o
l e i t e t d i e G e s c h i c h t e . E s w i e d e r h o l t s i c h i m B e w u ß t -
s e i n d e s M e n s c h e n d e r s e l b e P r o z e ß (das In-Bewegungkommen
der Potenzen, deren Scheidung nun real wird statt potenzial zu / bleiben)
d u r c h d e n d a s U n i v e r s u m e n t s t a n d . Demgemäß ergeben sich fol-
gende (dem Naturvorgang entsprechende) Stufen:
(A)
Ausschließliche Herrschaft des realen Prinzips: astrale Religion der vor-
geschichtlichen Menschheit.
(B)
Das reale Prinzip macht sich dem Höheren zugänglich, wird zur Materie
und Mutter derselben: Perser, Babyloner, Araber.
(C)
Der Kampf der beiden Prinzipien.
(1)
Das reale Prinzip behält die Oberhand; die höhere Potenz erscheint in
Knechtsgestalt: Kronos, Phönikier.
(2)
Das reale Prinzip wird wieder zur Mutter des Höheren: Kybele, Phrygier.
(3)
Allmähliches Hervortreten des höheren Prinzips (vollständige Mytholo-
gie): (a) das reale Prinzip im Kampfe ums Dasein: Ägypter; (b) das reale Prin-
zip wird zerstört, es wird aber keine neue Einheit gefunden: Indien; (c) Wieder-
herstellung der Einheit: Griechen. Abschluß der Mythologie in den griechischen
M y s t e r i e n , die das Kommen eines höheren Prinzips verkünden und den
Übergang zum Christentum bilden.
Die O f f e n b a r u n g ist die Durchbrechung der vorigen Verborgenheit
Gottes, das Hervortreten Gottes als wirklicher Mensch, als C h r i s t u s . Die Er-
scheinung Christi steht im Mittelpunkte der Weltgeschichte. Das Werk Christi ist
die Erlösung, die Selbstaufopferung, die Selbstentäußerung, durch die er die Welt
Gott zuführt.
Ihm steht entgegen der S a t a n (Scheidung der Potenzen, die nicht real wer-
den sollten) als principium movens der Geschichte. — Dem petrinisch- katholi-
schen und paulinisch-protestantischen Zeitalter der Kirche wird ein johanneisches
folgen.
Schelling wendet sich mit einer Klarheit gegen den Begriff des F o r t -
s c h r i t t e s , die alle andern übertrifft: „Aber jenes Fortschreiten [des Men-
schengeschlechtes] geht nicht, wie man meint, vom Kleinen ins Große, vielmehr
umgekehrt macht überall das Große, Gigantische den Anfang und das organisch
Gefaßte, ins Enge Gebrachte, folgt erst nach. Homer ist von solcher Größe, daß
keine spätere Zeit ihm Aehnliches hervorzubringen im Stande war, dagegen
würde auch eine Sophokleische Tragödie im homerischen Zeitalter eine Unmög-
lichkeit gewesen seyn. Die Zeiten unterscheiden sich voneinander nicht durch
bloßes Mehr oder Weniger sogenannter Kultur, ihre Unterschiede sind innere,
sind Unterschiede wesentlich oder qualitativ verschiedener Prinzipien, die sich
einander folgen, und deren jedes in seiner Zeit zur höchsten Ausbildung gelan-
gen kann.“
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1
Schelling: Sämtliche Werke, Bd 11, S. 65.
2
Schelling: Sämtliche Werke, Bd 11, S. 239.