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die aus den ausgelösten Spannungen folgen, welche es davon auswählt, schöpfe-
risch gestaltet und umgestaltet, das bleibt ihm selbst anheim gegeben.
F o l g e r i c h t i g k e i t allerdings sehen wir trotz aller Unterbrechungen
in der Geschichte. Es ist offenbar nicht möglich, daß ein Volk in der Mitte
stehen bleibe, genauer gesagt, daß eine Abfolge von Brüchen und Gegenbrüchen
zum Stillstande komme, ehe sie so oder so beendet sei: Jede große Bewegung,
die einmal in Gang gekommen, sei sie politisch oder rein geistig, geht ihren
Weg unerbittlich fort. Die Ideen von 1789 wirkten weit über die Zeit der
französischen Revolution hinaus. Als diese in ihrer Vollauswirkung, das heißt
auf dem Wege zum Chaos gehemmt wurde, da Napoleon auftrat, war der
Geist, der den großen Bruch hervorgerufen hatte, noch lange nicht erschöpft.
Die Gegenbrüche und Gegenspannungen, welche jene Vollauswirkung verhin-
derten, waren zwar mit Kraft am Werke: Napoleon, Metternich (zum Teil mit
dem geistigen Hintergrunde der Romantik), die Bourbonen; später die Nieder-
schlagung der 1848er Aufstände in den deutschen Ländern, Bismarck — aber der
Urbruch, einmal geschehen und in geschichtlichen Spannungen verwirklicht, geht
weiter. Der Geist von 1789 ist bis heute nicht erschöpft. Ihm scheint ein innerer
Weg vorzeichnet zu sein. Der Sprung ins Dunkle muß gewissermaßen zu Ende
getan werden. So geht es oft in der Geschichte. Der peloponnesische Krieg mußte
fortgehen bis ans Ende. Und war es nicht ebenso im dreißigjährigen Kriege,
ebenso in der Auseinandersetzung Preußen-Österreich, die vom siebenjährigen
Kriege bis zu 1866 dauerte, ebenso zuletzt im Weltkriege, und in seinen Fol-
gen? — Dieses „Vorgezeichnete“ bedeutet aber keine Naturgebundenheit der
Geschichte! Es heißt nur: wer „a“ sagt, muß auch „b“ sagen. Aber dieses
„Müssen“ ist kein mechanischer Zwang, ist kein naturursächlicher Ablauf. Es ist
ein Begriffliches, Logisches, Freies an ihm, das heißt ein Sollen. Daher ist die
Geschichte dadurch / gekennzeichnet, daß es in jedem Augenblicke anders kom-
men kann. Und doch gilt wieder, daß dieses „anders“ nicht Willkür bedeutet.
Denn es hätte nicht „irgendwie“ anders kommen können, sondern nur be-
schränkt. Wer denkt, kann dabei irren oder kann die logische Kette abbrechen,
aber er ist doch immer noch im Raume dieser logischen Kette. Wer rechnet,
kann einen Rechenfehler machen, bleibt aber immer im Rahmen des Mathema-
tischen. Der Feldherr kann nur einen strategischen Fehler machen, der Spieler
einen Spielfehler, der Lehrer einen Erziehungsfehler. So überall in Gesellschaft
und Geschichte. — Der Gewinn unserer Betrachtung liegt darin, daß trotz einer
gewissen Wegrichtung doch die Freiheit der Umgliederung, die schöpferische
Freiheit, den geschichtlichen Ganzheiten und den Menschen anheim gegeben ist.
Wir werden dieser Frage später noch begegnen
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Vgl. unten S. 310 ff.