206
[234/235]
Denkaufgaben des philosophischen Wissens und künstlerischen Ge-
staltens. Es liegt klar zutage, daß damit noch nicht wirklich Ge-
schichte geschrieben wird. Warum? Weil Religion, Wissenschaft,
Kunst nicht mehr (aber auch nicht weniger) als die Grundlage, das
Vorgeordnete, das Prius des Handelns und damit auch des anstalt-
lichen Handelns sind. Religion muß zunächst im kirchlichen Leben,
Wissenschaft zunächst im Schul- und Bildungsleben, Kunst in Schau-
spielwesen, Konzertwesen und Kunstanstalten aller Art zur Aus-
wirkung kommen. Von diesen anstaltlichen Veränderungen und
Spannungen aus entstehen dann die Spannungen zwischen den An-
stalten untereinander, und so zeigt sich die Geistesgeschichte überall
als unvollendete Geschichte, wo sie nicht die Auswirkungen in das
anstaltliche Leben weiter verfolgt und das Werden und Tun in die-
sem Anstaltsleben selber / darstellt. — Die neue Richtung der
Frömmigkeit durch den heiligen Bernhard von Clairveaux muß von
der Geistesgeschichte als Richtung des inneren Lebens der Religion
selbst verstanden und beschrieben werden. Aber ihre geschichtliche
Sendung ist erst geschildert, wenn sie als eine Kraft, die zu den
Kreuzzügen führt, erfaßt wird. Die Kreuzzüge gehören aber dem
anstaltlichen Leben der Kirche, des Staates, der ständischen Gebilde
an. — Reine Geistesgeschichte bleibt im Vorfelde der Geschichte,
rein politische Geschichte ohne die tieferen Grundlagen der Geistes-
geschichte hängt gleichsam in der Luft. Sie erzählt vom Ende, ohne
vom Anfange erzählt zu haben
1
.
2. Die Vorränge innerhalb der innergesellschaftlichen Spannungen.
Es gibt nicht nur Eine Geschichtsschreibung, sondern ein Gebäude
verhältnismäßig selbständiger Geschichtsschreibungen.
Verfahrenlehre
Das Ergebnis dieser Betrachtungen ist, daß die Geistesgeschichte
zur politischen Geschichte in einem V o r r a n g v e r h ä l t n i s
steht. Wie dieser Vorrang im allgemeinen und besonderen aussieht,
lehren die Vorrangsätze der Gesellschaftslehre. Die allgemeinen
Vgl. Weiteres sogleich bei den Vorrängen, unten S. 207 ff.