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bung erfüllen. Die Spannungen zwischen den anstaltlichen Gebil-
den Staat und Kirche haben das Mittelalter erfüllt als „Kampf zwi-
schen Papsttum und Kaisertum“; die Spannungen zwischen den
übrigen Ständen (das sind anstaltliche Gebilde) waren ebenfalls hef-
tig und führen schließlich die Neuzeit herauf. Alle diese Spannun-
gen sind aber bereits abgeleiteter Art, sie gestalten die geistigen
Spannungen, sie geben ihnen Ausdruck.
Die Spannungen zwischen den Staaten (also von Anstalten gleicher Art) sind
das mittelste Thema der politischen Geschichte im allgemeinen und der Kriegs-
geschichte im besonderen. In Form der „Vorherrschaft“ eines Staates, z. B. Roms
und der „Bundesgenossenschaft“ in älteren Zeiten; oder in der Form des „Gleich-
gewichtes der Mächte“ in neuesten Zeiten sollen diese Spannungen gebändigt
werden. Denn an ihre Lösung im eigentlichen Sinne ist ja meistens nicht zu
denken.
Die tiefsten Analysen der allgemeinen Geschichtsschreiber sehen wir den
Fragen der Spannungen zwischen den Staaten oder den anderen anstaltlichen
Mächten der Geschichte gewidmet. Warum war Ranke als Geschichtsschreiber so
groß? Weil er in jeder Lage der europäischen Geschichte das Kräftespiel der
großen Mächte mit einer Wahrheit zergliedert, daß wir uns nicht nur in jene
Zeiten zurückversetzt finden, sondern auch auf die Brüche, seien es die politi-
schen, seien es die geistigen, geführt werden, die jenen Spannungen zugrunde
liegen und uns schließlich auf ihre metaphysische Quelle hingewiesen sehen.
Der Gegensatz des Hauses Österreich z. B. zu den Bourbonen war bei aller
Beeinflussung durch Persönlichkeiten durchaus ein anstaltlicher, im Staatenbau
Europas begründeter. Und zwar war er ein mehrfacher. Denn nicht nur die
Staaten sind anstaltliche Gebilde, auch die F ü r s t e n h ä u s e r (Dynastien)
selbst sind es, in denen sich staatliche und andere Anstalten verkörpern, in
denen aber auch geistige Strömungen, Brüche und darausfolgende Spannungen
zum Ausdruck kommen. — „Gleichgewicht“ ist ein Wort, das nur eine gewisse
technische Seite der Sache bezeichnet. Vielmehr sind cs die Spannungsverhält-
nisse der größten Anstalten, der politischen Mächte Europas, die die Geschichte
kennzeichnen. Daß die Spannungen jeweils einander die Waage halten müssen,
um in Schwebe zu bleiben, das will jenes Wort vom „Gleichgewichte“ andeuten,
ohne Hegemonie auszuschließen.
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Lehrreich dafür ist eine Stelle bei R a n k e
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„Was war es, was der Monarchie
von Österreich von dem Moment, als alle ihre Gegner sich erhoben [nach dem
Regierungsantritt Maria Theresias und dem siebenjährigen Krieg] und ihre
Auflösung unvermeidlich erschien, am meisten zustatten kam? Es war der alte
Gegensatz des Hauses Österreich gegen das Haus Bourbon. Die österreichische
Macht war notwendig, um dem Übergewicht der Bourbonen, das durch den
Kardinal Fleury auf dem Kontinent gewaltig erneuert wurde, Widerstand zu
leisten. Aus diesem Grunde hielt die englische Nation das österreichische Haus-
gesetz [die pragmatische Sanktion] aufrecht. — Aber nicht auf politischer Kom-
bination allein beruhen die großen Staaten. Österreich entwickelt eine die an
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Leopold von Ranke: Zwölf Bücher preußischer Geschichte (1874), 12. Buch,
Einleitung.