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XI.
Die innergesellschaftlichen Spannungen, insbesondere die
staatlichen Spannungen und die Kulturdurchdringungen
A. Die i n n e r g e s e l l s c h a f t l i c h e n S p a n n u n g e n
1. Überblick. Verhältnis von Geistes- und Staatengeschichte
Die Geschichtsschreibung hat unbewußt mit dem Begriffe der
Spannungen tatsächlich überall gearbeitet. Doch war es ihr mangels
einer ausgebildeten Gesellschaftslehre unmöglich, die Spannungen
auch planmäßig zu bestimmen und einzuteilen. Wir stoßen hier
wieder handgreiflich auf die Tatsache, daß ohne eine gesellschafts-
wissenschaftliche Grundlegung die Geschichtsschreibung auf Begriffs-
bildungen aus dem Stegreife angewiesen ist. — Wir teilen jene
Spannungen um die es vor allem in der Geschichte geht, die inner-
gesellschaftlichen Spannungen, nach der Ausgliederungsordnung der
Gesellschaft ein, wie sie die Gesellschaftslehre angibt. Daher brau-
chen wir bloß den gesellschaft- / lichen Ort des Bruches aufzusuchen
und haben damit auch den der Spannungen. Demgemäß unterschei-
den wir
1
(1)
die geistigen Teilinhalte (Teilganzen) als: Religion, Wissen-
schaft, Kunst; Sinnlichkeit; Sittlichkeit-Recht; ferner die Ableitun-
gen aus allen diesen ursprünglichen Inhalten;
(2)
die Arten des Handelns, von denen für die Brüche und Span-
nungen nur das veranstaltende oder organisatorische Handeln (Or-
ganisation), das mittelbeschaffende Handeln (Wirtschaft), endlich
vom ausdrückenden Handeln die Sprache in Betracht kommen;
(3)
der Stufenbau aller dieser Inhalte. Für die geistigen Teilinhalte
als Gesamtganzes und als Einzelnes ergibt sich der Stufenbau von:
Menschheit, Kultur- und Völkerkreis; Volkstum; Stammestum;
Heimatkreis; Volksglied. — Aus dem Bereiche des Handelns sind
Beispiele des Stufenbaues: Staatenbund, Staat, Unterganzheiten des
Staates und Staatsglieder (Bürger); ferner: Weltwirtschaft, Volks-
wirtschaft; Unterganzheiten der Volkswirtschaft, Betriebe, Betriebs-
glied mit Haushalt und Haushaltsglied.
Jede Spannung muß sich an einem dieser Orte der Gesellschaft
befinden, je nach dem Bruche, aus dem sie folgt, oder auch an vielen
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Das Nähere in meinem Buch: Gesellschaftslehre (1914), 3. Aufl., Leipzig
1930, S. 249 ff. [4. Aufl., Graz 1969, S. 301 ff.].