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sich so verschiedenen Provinzen zusammenhaltende innere Lebenskraft. Die Be-
dingung alles Fortbestehens beruhte auf der Auseinandersetzung mit Ungarn,
welche Maria Theresia in dem Momente ihrer größten Gefahr durchführte. .
Ein ähnliches Bild zeigen die Spannungen i n n e r h a l b der
anstaltlichen Gebilde. Unter diesen nimmt heute der Staat eine viel
größere Stellung ein als in früheren Zeiten, wo die Stände — die
zugleich politische Stände waren, man denke nur an die Hansa, oder
an die Kirche — als Anstalten mächtig dastanden. Allerdings hat
der Staat wesensgemäß den Vorrang vor den Ständen.
Jeder Staat hat Unterganzheiten, Unterstaaten mit eigenen Stämmen, Gauen
— die ihr Eigenleben führen und, wenn sie ihre Gliedstellung geistig oder
politisch ändern, in Spannung zu dem bisherigen Staatsganzen treten. Je nach-
dem der Staat zentralistisch oder bündisch-dezentralistisch (föderativ) aufge-
baut ist, sind diese Spannungen von anderer Art. Daher die innere Geschichte
der zentralisierten Staaten Frankreich und England vom späten Mittelalter an
ein anderes Bild zeigt als das des bündischen Deutschland. Die Spannungen im
Innern des Staates und demgemäß die Kräfteaufwendungen nach außen, die
Gliedstellungen im Verhältnis der Staaten zueinander sind andere. Auch ein
Vergleich Deutschlands mit dem griechischen Staatengebäude ist lehrreich.
Alle diese Beispiele zeigen, wie sehr die Spannungen und ihre Zergliederung
die Geschichtsschreibung beherrschen.
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Von der Einteilung der Spannungen aus fällt abermals Licht auf
den Streit über das V e r h ä l t n i s d e r G e i s t e s - o d e r
„ K u l t u r g e s c h i c h t e “ z u r S t a a t e n g e s c h i c h t e , ein
Streit, der zu Zeiten Lamprechts bis zur Siedehitze gedieh. Die ver-
schiedenen Arten der Spannungen s t e l l e n s i c h a l s v e r -
s c h i e d e n e n
S c h i c h t e n
d e s
g e s c h i c h t l i c h e n
W e r d e z u s a m m e n h a n g e s angehörig dar. Wer nur poli-
tische Geschichte, wer nur Religions-, Kunst- oder allgemeine Kul-
turgeschichte, oder wer nur Geschichte der großen Männer schrei-
ben wollte, verkennte diese Mannigfaltigkeit der Schichtungen mit
eigenen Spannungen und auch verhältnismäßig eigenen Werdezu-
sammenhängen. — Wer Geistesgeschichte schreibt, bewegt sich im
Vorfeld der politischen Geschichte in dem Sinne, daß er nur die Ge-
schichte der Gedanken schreibt, aber noch nicht die der Auswirkung
dieser Gedanken in Taten, wie sie anstaltlich geformt auftreten.
Schreibt man z. B. die Geschichte der christlichen Frömmigkeit im
Mittelalter, so schreibt man zunächst nur die der inneren Fragen
und Denkaufgaben des frommen Lebens; schreibt man Geschichte
der Philosophie oder der Baustile, so jene der inneren Fragen und