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einem ungeteilten inneren Sinne heraus, der den Ideengehalt der
Dinge wie traumwandlerisch schaut und vermögend ist, dem Er-
schauten einen Ausdruck, eine Gestalt dadurch zu geben, daß er
das Sinnensystem unseres Leibes, insbesondere auch die Stimm-
organe, bewegt, ähnlich wie beim Tanzen der Ausdruck in den
Gliederbewegungen des Leibes unmittelbar zur Geltung kommt.“
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Erst wenn die Sprache als Gesamtganzes einmal da ist, kann ein
Sprachgenie sie weiterbilden, oder kann eine veräußerlichte Zeit sie
verwahrlosen und verfallen lassen, können glückliche und unglück-
liche Geistesschicksale sie fördern oder hemmen: aber die Entste-
hung der Sprache selbst ist etwas ganz anderes!
Wer das Entstehen der Sprache selbst erklären will, muß auf
ihre Wurzel zurückgehen. Als diese Wurzel wird aber niemals das
Denken des Einzelnen (und auf dieser Grundlage: sein „Schrei“,
seine „Wechselwirkung“ usw.) erfunden werden. Kein anderer Zu-
stand als jener einer hochgesteigerten Unmittelbarkeit der Gezwei-
ung, jener Zustand, in welchem der Geist am Geiste unvermittelt
teilnimmt, der innere Urzustand des Menschen ist es, welcher (ver-
deckt auch noch heute) als der Wurzelgrund der Sprache sich aus-
weist. Erst wenn sich, wie wir schon sagten, diese Teilnahme in
ihrer Unmittelbarkeit vermindert, muß der Geist / von der Höhe
seiner Selbstmächtigkeit aus die erlangte Geistesausbildung bewah-
ren, indem er die vermittelnden äußeren Zeichen zur Verständigung
hervorbringt. Geistige Urkraft und künstlerisches Können höchster
Art, beides muß dem Menschen zur Verfügung stehen, um ein so
großartiges Gebäude von Zeichen und Ausdrücken zu schaffen, wie
es eine höhere Sprache in sich schließt. Aus einem tierischen Zu-
stande kann daher Sprache nicht entstehen. Wie könnten z. B. die
tiefen logisch-ontologischen Wahrheiten der Unterscheidung von
Haupt- und Eigenschaftswort, wie die Verkettungen von Subjekt
und Prädikat von einem tierischen Verstande je gefunden worden
sein? Wie die Unterschiede der Geschlechter der Dinge (die uns die
höheren Sprachen nennen) — wie anders als gerade durch ein gei-
stiges Mitleben mit den Substanzen der Wirklichkeit, gleich einer
inneren Gemeinschaft der Ideenwelt? Die Sprache weist uns auf so
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Vgl. mein Buch: Gesellschaftslehre (1914), 3. Aufl., Leipzig 1930, S. 414 f.
[4. Aufl., Graz 1969, S. 496 f.].