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Die Frage nach dem Sinn der Geschichte und nach Stellung und
Aufgabe des Menschen in ihr ist ein Hauptthema der Geschichts-
philosophie unseres Jahrhunderts.
Bestritt man auch vielfach die Erkenntnis eines Sinnes der
Menschheitsgeschichte, ja erklärte man sogar (wie Theodor Lessing),
Geschichte sei S i n n g e b u n g d e s S i n n l o s e n , so wollte man
doch, wie Heinz Heimsoeth einmal sagte, Sinn und Vernunft nicht
völlig aus dem Bereich der Geschichte verbannt wissen.
Neben der Sinnfrage fand die Problematik der den geschicht-
lichen Ablauf bestimmenden Faktoren ebenso eingehende Behand-
lungen wie die l o g i s c h e n u n d e r k e n n t n i s t h e o r e t i -
s c h e n Probleme der Geschichte.
Entschieden aber lehnte man alle Metaphysik der Geschichte ab.
Man war überzeugt, daß man einen Gesamtplan der Geschichte
nicht mehr auskundschaften könne (H. Heimsoeth) ja sogar, daß
man nicht einmal mehr Geschichte „logisch“ begreifen, ihre Zu-
sammenhänge „einsichtig“ machen könne.
Aber die gewaltige, der unermüdlichen Arbeit der Geschichts-
wissenschaften zu dankende, historische H o r i z o n t e r w e i -
t e r u n g und das durch die beiden Weltkriege und ihre Folgen
erschütterte L e b e n s g e f ü h l der europäischen Menschheit ließen
die metaphysische Problematik der Geschichte nicht mehr zur Ruhe
kommen, verlangten immer wieder ihre Bearbeitung.
Aber nur e i n Philosoph des Jahrhunderts nahm ihre systema-
tische Bearbeitung in Angriff. Es war Othmar Spann.
Er wußte um die Größe und Schwere der Aufgabe. An die Stelle
des letzten Ansatzes abendländischer Geschichtsmetaphysik, den
der Hegelschen Dialektik der Geschichte, setzte er seine Theorie der
Geschichte als der Lehre von den U m g l i e d e r u n g e n der gei-
stigen und gesellschaftlichen Ganzheiten der Menschheit.
Die Frage nach dem Wesen der Geschichte führte ihn zur ontolo-
gischen Grundfrage: „Warum ist überhaupt Werden in der Welt?,
warum Verwandlung, Fluß der Zeit, Enstehen und Vergehen?“
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Grundlage der Beantwortung dieser Frage war ihm das Gegen-
wärtigsein der Vergangenheit in Bewußtsein und Erleben der Men-
schen. Dieses Lebendig- und Wirksamsein der Vergangenheit in der
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Siehe oben S. 3 f.