250
[281/282]
Gehalt der Naturerscheinungen, wie mächtig er uns auch er-
greifen mag, kein unmittelbarer, eindeutiger, insbesondere kein
rationaler ist.
So besteht der Sonnenaufgang, äußerlich gesehen, nur in der
Aufhellung der Nacht und dem schließlichen Hervortreten der
Lichtstrahlen unter Farbenentwicklung. Dem inneren Gehalte
nach aber ist uns der Sonnenaufgang das Sinnbild der Er-
neuerung, der inneren Wendung, der Neugeburt. Eindeutig /
und rational beweisbar ist diese Sinnbildlichkeit nicht. Das
macht: Was für die menschliche Seele Erneuerung und Neu-
geburt ist, kann in gleicher Weise in der Natur nicht Vorkommen.
In der verräumlichten Ebene nicht, wohl auch nicht in der vor-
räumlichen Ebene. Aber ein Vorgang, der dem e n t s p r i c h t
(mittelbar entspricht), was uns innere Erneuerung bedeutet, ein
solcher Vorgang kann dem überräumlichen Tun und Schaffen
der Natur mit Recht zugesprochen werden.
Vielleicht wird das noch deutlicher, wenn wir die zugleich
düstere und helle, siegreich aufsteigende Musik des Mondauf-
ganges betrachten, die Mozart in der „Zauberflöte“ (I, 4, Musik
beim ersten Erscheinen der Königin der Nacht) gibt. Diese Musik
kann nicht objektiv genug genommen werden. Mozart sah den
Mondaufgang, und diese erhabene Erscheinung setzte sich ihm
in Rhythmen und Klänge um; diese Rhythmen und Klänge ent-
hüllen uns das Innere der Natur. Auch hier Erneuerung, neues
Werden und Aufsteigen, aber in dunklem Rahmen.
Ist die Sonne erschienen, so zeigt die Natur das Bild
leichtquellender Jugendkraft. Wie überzeugend wirkt darum
das „Morgenlied“ Conrad Ferdinand Meyers:
„Mit edeln Purpurröten
Und hellem Amselschlag,
Mit Rosen und mit Flöten
Stolziert der junge Tag . . .
Ihr taubenetzten Kränze
Der neuen Morgenkraft,
Geworfen aus den Lüften
Und spielend aufgerafft. . .“
Das Waldweben (wir nehmen ausnahmsweise ein Beispiel aus
dem Organischen), das Richard Wagner in unsterbliche Töne
faßte, ist uns das Sinnbild des lustvoll in sich kreisenden, selig