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in engen Grenzen..., sondern gänzlich unmeßbar...: wenn du so geworden
dich erblickst, dann bist du selber Sehkraft . . ., dann schreite hinauf.. . blicke
unverwandt, denn allein ein solches Auge schaut die große Schönheit“
1
.
Nur bildlich wird hier von „Schönheit“, „Ergreifung des besten
Teiles“, „Verwirklichung des höchsten Lebens“ in der Einswerdung
gesprochen; denn der Geist läßt in der höchsten Ekstasis alle
Konkretion des Erkennens hinter sich. — Plotin begründete von
seinen mystischen Erfahrungen aus eine Lehre vom Stufenbau des
Seins und der Emanation.
B.
M e i s t e r E c k e h a r t
u n d a n d e r e M y s t i k e r
Am lebendigsten spricht zu uns Meister Eckehart (
1318). Es
sind viele Stellen, die man aus den von F r a n z P f e i f f e r 1857
herausgegebenen, von B a a d e r angeregten und von L a s a u l x
— der seine Sammlung Pfeiffer übergab — begonnenen deutschen
Predigten und Schriften anführen könnte. Sie geben das klarste
Bild davon, wie in der wahren Gottschau die Seele vereint werde
„mit Ungedanken ins Ungedachte“.
Drei S t u f e n mystischen Erlebnisses werden, wie schon er-
wähnt, von altersher und so auch von Eckehart unterschieden: Die
Reinigung (via purgativa), Erleuchtung (via illuminativa) und Ver-
einigung (via unitiva). Diese letztere, die unio mystica, ist die
höchste und eigentlichste Gottschau, in der alle Visionen hinter sich
gelassen werden. Im einzelnen erfahren wir von Meister Eckehart
über die M e t h o d e der mystischen Übungen wenig. „Gott ist ein
Spiegel, der sich offenbart, wem er will und sich verbirgt, wem
er will“
2
. Hier bietet die indische Yogalehre ungleich mehr. Bekannt-
lich hat diese mehrere Systeme der Schulung ausgebildet, deren
Ziel es ist, schrittweise den Geist in der Sammlung zu üben, alle
Organe des Leibes dadurch zu beherrschen und so schließlich die
höheren ekstatisch-mystischen Zustände zu erreichen (so auch
Kerning).
Die mystische Einigung nennt Meister Eckehart die Geburt /
Gottes in der Seele. Was ist diese? Da nach Eckeharts richtiger Lehre
1
I. Enneade, VI, 9, deutsch von Richard Harder, in: Plotins Schriften, Bd 1,
Leipzig 1930 (= Philosophische Bibliothek, Bd 1).
2
Franz Pfeiffer: Meister Eckhart, Leipzig 1857, S. 536, Zeile 8.