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Diese Blumenlese aus Denkmälern, welche sich, wie Brugsch zeigt,
über vierzig Jahrhunderte und die verschiedensten Teile / Ägyptens
verteilen
1
, beweist mit Sicherheit, daß ein hoher, nur aus mystischen
Erfahrungen erlangbarer Gottesbegriff von den ältesten Zeiten an
in Ägypten die Grundlage der höheren Religiosität bildete, worauf
in neuester Zeit die Forschungen der Wiener ägyptischen Schule
mehr und mehr hinweisen
2
. Da diese mystische Schichte der Reli-
gion im übrigen von dem üppigsten T i e r - u n d D ä m o n e n -
d i e n s t verdeckt war, so steht es meines Erachtens außer Zweifel,
daß eine niedere Magie die untere Schichte des Glaubens beherrscht.
Ägypten bietet so geradezu das klassische Bild einer R e l i g i o n s -
m i s c h u n g. Die höhere Schichte der Religion war mystisch, die
niedere magisch bestimmt
3
.
Die Vermutung, daß eine, den indischen Brahmanen ähnliche,
vielleicht sogar verwandte Schichte der Bevölkerung Träger der
m y s t i s c h e n Religiosität war, dagegen eine andere, wohl den
heute umwohnenden Afrikanern entstammende, Träger der ma-
g i s c h e n u n d p o l y d ä m o n i s t i s c h e n Religiosität, scheint
mir unabweislich, kann aber hier nicht weiter begründet werden.
Der letzte große Kampf dieser religiösen Schichten spielte sich
wohl ab, als E c h n a t o n s monotheistische, daher mittel- oder
unmittelbar mystisch begründete Reform scheiterte (14. Jahrhun-
dert v. Chr.). Von da an drangen die Tier- und Dämonendienste
vor, die Mystik wurde mehr und mehr zu unwirksamer Geheim-
lehre oder zu bloßer Literatur.
D.
A l t i n d i s c h e M y s t i k
Mystische Gotteserfahrung verrät auch die a l t a r i s c h e Re-
ligion. Nach Johannes Hertel ist schon „die indogermanische Reli-
gion eine ausgesprochene Lichtreligion“, was unseres Erachtens auf
Mystik
deutet,
jedenfalls
aber
auf
die
altarische
4
.
1
Heinrich Brugsch: Religion und Mythologie der alten Ägypter, Leipzig
1888, S. 96.
2
Man vergleiche Wilhelm Czermak: „Vom großen Gedanken Ägyptens“ im
Archiv für ägyptische Archäologie und andere.
3
Worüber später mehr.
4
Johannes Hertel: Die arische Feuerlehre, 1. Teil, Leipzig 1925, S. 19 und
öfter. — Auch nach Friedrich Spiegel: Die arische Periode, Leipzig 1887, kennt