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Arme, Ausgestoßene, niedere Kasten büßen eben nur, was sie in
früheren Leben verbrachen.
Bei Platon finden wir, damit in Verbindung und zugleich darüber
hinaus, noch die f r e i e , i n t e l l i g i b l e E n t s c h e i d u n g
der Seele, insofern sie vor der Wiederverkörperung ihr neues irdi-
sches Los selbst erwählt
1
. — Einer freien, intelligiblen Entscheidung
der Seele des Verstorbenen begegnen wir auch im tibetanischen To-
tenbuch. Nicht nur die, die Seele umschwebenden karmischen Sche-
men, auch ihr eigener Wille bestimmt dort die neue Verkörperung
mit
2
.
Die Anknüpfung der Seelenwanderungslehre an die Kategorie der
G o t t v e r w a n d t s c h a f t ist darin gegeben, daß die Seele, ent-
sprechend ihrer Göttlichkeit nach den meisten Mythologien zu
einem gottähnlichen Wesen oder einem Gott selbst wird. Im ägyp-
tischen Totenbuch wird bekanntlich der durch das Gericht gerecht-
fertigte Tote als „Osiris N. N.“ angeredet. Wesentlich ist nun un-
seres Erachtens dabei weiter, daß sich der zum Gott gewordene
Gestorbene f r e i i n a l l e G e s c h ö p f e v e r w a n d e l n könne
— wie jeder Gott
3
. Auf diese Weise kann aus der Gottverwandt-
schaft die Möglichkeit der Seelenwanderung (Metempsychose) ge-
folgert werden.
Auch Platon knüpft an die Gottverwandtschaft an, wenn er im
Phaidon sagt, nur die gereinigte Seele könne in das Göttliche ein-
gehen. Er folgert daraus, die nicht gereinigte müsse zur / Reini-
gung, Läuterung in das Irdische zurückkehren, wo sie sogar in
Tierleiber eingehen könne. — Ähnliche Gedankengänge finden sich
1
Platon: Der Staat.
2
Walter Yeeling Evans-Wentz: Das tibetanische Totenbuch, aus der englischen
Fassung des Lama Kazi Dawa Samdup, deutsch von Louise Göpfert-March,
Zürich 1936.
3
Simon Leo Reinisch: Die ägyptischen Denkmäler in Miramar, Wien 1865,
S. 54, sagt: „Den Göttern ... in allem gleich sind die in der Gerechtigkeit Ver-
storbenen, sie nehmen alle Verwandlungen an, welche sie wollen; gleich den
Göttern erscheinen sie in Tier- und Menschengestalt.“ Reinisch führt hierfür als
Quellenbeleg folgende Stelle unter anderen an: „Ein Gott ist deine Seele im
Himmel, machend alle Verwandlungen, welche du willst. .. (Saian-Sins. pg. 17,5)“
und verweist auf das tibetanische Totenbuch c. 17, 1; 1, 1, S. 55. — Die heutige
Ägyptologie nimmt allerdings an, die Ägypter hätten keine Seelenwanderung
gelehrt. — Dagegen: Herodot: II, 123.