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überhöht auch das Christentum den Polytheismus, befaßt ihn in
sich, läßt ihn aber in Schwebe, setzt ihn in seinen Gefahren und
Mißbräuchen außer Kraft.
Wem das zuviel gesagt erscheint, der bedenke: Das Heidentum
bestand ungeheure Zeiträume hindurch. Es war kein Traum, es war
lebendige Wirklichkeit. Woran soviele Völker Jahrtausende hin-
durch glaubten, worauf sie ihr Leben bauten, ihre Einrichtungen
und Sitten — soll das alles nichts, soll es ganz und gar unwahr ge-
wesen sein? Nein! Ein Kern des Heidentums war Wahrheit, und das
erwiese sich heute noch, würde heute die Menschheit zum Heiden-
tum zurückkehren.
E.
Die O f f e n b a r u n g
W a h r i s t d i e O f f e n b a r u n g .
Die Begründung dieses Satzes erfolgte schon früher. Sie ergibt
sich insbesondere dadurch, daß die Offenbarung hauptsächlich durch
die Eingebung in mystisch-ekstatischen Zuständen wirkt, denen die
Erweckung großer Religionsstifter mit ihrer besonderen Indivi-
dualität inmitten mannigfacher Völker und Kulturen vorhergeht
1
.
Z u s a t z ü b e r d i e S e e 1 e n w a n d e r u n g s l e h r e n
Die Fülle der Verschiedenheiten in den Lehren der großen Reli-
gionen verdeckt deren, im geheimsten Grund gleichartigen Wahr-
heitsgehalt. Wir vermochten diese Verschiedenheit durch Rückgang
auf ihre mystischen und magischen Wurzeln fast durchaus als Un-
vollkommenheitsformen oder exoterische Äußerlichkeiten zu erklä-
ren.
Als eine der wenigen nicht am Äußerlichen haftenden, sondern
tiefer gehenden Lehren, welche religiöse Verschiedenheiten begrün-
den, scheint jedoch die Lehre von der Seelenwanderung / unaufge-
löst zurückzubleiben. Ihr haben wir daher noch eine besondere Un-
tersuchung zu widmen.
Wie ist dieser, dem heutigen Europäer so fremdartige Glaube zu
erklären? Hat auch er eine mystische und eine magische Wurzel?
Wir können folgende Möglichkeiten seiner Erklärung unterscheiden:
1
Über die Sonderstellung des Christentums siehe unten S. 367 f.