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schildert, er lehrt sie allerdings an mehreren Stellen seiner Schrif-
ten, so in der berühmten Stelle seines „Staates“
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über die Loswahl,
welche aber von rein spekulativen Gedanken über Willensfreiheit,
Schicksal, Verantwortung beherrscht ist und nichts von ekstatischer
Schau über frühere Erdenleben enthält.
Ein unverwerfliches Zeugnis für unsere Auffassung dürfen wir
auch darin erblicken, daß der große Meister des „leuchtenden Den-
kens“, Zarathustra, die Seelenwanderung nicht lehrt.
Die einzige Möglichkeit, den Seelenwanderungsglauben auf eine
mystische Wurzel zurückzuführen, sehen wir darin, daß in der
M y s t i k d i e i n n e r e W i e d e r g e b u r t a l s W e s e n s -
u m w a n d l u n g g e f e i e r t w u r d e . Diese esoterische Lehre
von der eigenen geistigen Wesensumwandlung des Mysten konnte
dann exoterisch als eine Neugeburt in anderer Gestalt, nach dem
Tod, vergröbert und versinnbildlicht werden, konnte schließlich die
Religion, die ganze Kultur durchdringen und von da aus wieder in
das spekulativ-theologische und philosophische Denken eindringen.
Vielleicht ebenso triebkräftig war aber wohl eine andere, eine
m a g i s c h e Wurzel des Seelenwanderungsglaubens. Der Zauberer
soll ja nach vielen alten Sagen und Märchen, auch nach Grimms
Märchen, sich selbst und andere in Tiere und sonstige Wesen ver-
wandeln können. Solche e x o t e r i s c h e u n d p s e u d o m a -
g i s c h e Ansichten wurden durch die Vorstellung durchgängiger
B e s e e l t h e i t d e r N a t u r erleichtert, überdies aber, was uns
sehr wichtig scheint, durch gewisse e m p i r i s c h e B e o b a c h -
t u n g e n gestützt, wie die Verwandlung von Raupen in Schmet-
terlinge, von Kaulquappen in Frösche, von Eiern in Vögel. Der
uralte chinesische Kalender, den wir im Li-Gi lesen, bringt phan-
tastische Beispiele von Verwandlungen bestimmte Tiere zu bestimm-
ten Jahreszeiten, so des Habichts in die Taube, der Feldmaus in die
Wachtel, des Fasans in die Seeschlange, der Schwalbe und des Sper-
lings in die Meermuscheln — ein deutlicher / Beweis dafür, welche
große Rolle diese Ansichten im Volksglauben spielten
2
.
1
Platon: Staat, 641 b ff.
2
Li-Gi, Das Buch der Sitte des älteren und jüngeren Dai, Aufzeichnungen über
Kultur und Religion des alten China, deutsch von Richard Wilhelm, Jena 1930,
Kapitel 22 und 24, S. 233 ff. und 251. Lü Bu We, Frühling und Herbst, aus dem
Chinesischen von Richard Wilhelm, Jena 1928, S. 104, 117 und öfter (enthält die
22 Spann, Religionsphilosophie