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1. Die rationalistische Erklärung.
Als typisch dafür sehen wir jene Albrecht Dieterichs an. Wenn
Dieterich sagt, das primitive Denken kenne nur Umwandlung, ein
Neuentstehen, ein Entstehen aus dem Nichts sei „für primitives
Denken undenkbar“, das Erscheinen einer Seele bei der Geburt des
Menschen sei daher nur als Wiederverkörperung, nur als „eine Me-
tamorphose zu fassen“, insofern sei „die Seelenwanderung eine
Anschauungsform ursprünglichen Denkens“
1
— so klingt das un-
seres Erachtens nicht überzeugend. Der Gedanke einer Wiederver-
körperung kann nicht auf der Naturanlage des Menschen, noch auf
sozusagen ontologischen Schlüssen beruhen. Diese Erklärung ist zu
gesucht, zu rationalistisch und naturwissenschaftlich-atomistisch.
Überdies wäre die angeblich natürliche Überzeugung des Nicht-
Neuentstehen-Könnens selber erst noch zu erklären. — Eine andere
Möglichkeit bietet:
2.
Die mystische und magische Erklärung.
Die innere m y s t i s c h e Erfahrung schließt eine unmittelbare
Kunde von früheren Geburten und Schicksalen zweifellos n i c h t
in sich. Denn diese Erfahrung gipfelt in der unio mystica, in der
Vergottung der Seele und schließt wohl Gottesbewußtsein, Gottes-
verwandtschaft, Unsterblichkeit in sich, sowie ihr eine unmittelbar
geforderte Schlußfolgerung auf die anderen, früher behandelten
Kategorien nahe liegt; keinesfalls aber enthält sie selbst konkrete
Erinnerungen an einen Kreislauf von Geburten
2
. Das liegt im Wesen
der Sache, und das beweisen auch alle oben über mystische Ekstasen
beigebrachten Belege. Man kann daher mit Bestimmtheit sagen, daß
alle, den großen Ekstatikern, z. B. Pythagoras, Buddha — zuge-
schriebenen Äußerungen, wonach sie in mystisch- / ekstatischer
Schau von ihren früheren Geburten Kunde empfangen hätten, un-
echte Einschiebsel seien, Fabeleien! Theoretisch konnten jene wohl
die Seelenwanderung vertreten haben, ekstatisches Wissen davon
hatten sie aber gewiß nicht. Platon sagt z. B. nichts über die See-
lenwanderung im Höhlengleichnis, welches die mystische Ekstase
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Albrecht Dieterich: Kleine Schriften, Leipzig 1911, S. 315.
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Derartiges wäre nur in v i s i o n ä r e n Zuständen möglich, die aber niedri-
gere Stufen darstellen und von den Bildern und Meinungen des Individuums mit
abhängig sind.