Einleitung
Kunst ist Urgabe des Menschen.
Sie bildet mit dem Wissen, der Sittlichkeit und dem Metaphy-
sisch-Religiösen zusammen jene höhere Einheit, in welcher der
menschliche Geist sich erst in seiner vollen Größe und Würde dar-
stellt.
Daher das Wonnevolle und Allgenügende der Kunst, wenn sie in
innigem Vereine mit diesen anderen wurzelhaften Lebensäußerun-
gen des menschlichen Geistes ist.
Bilden alle Seiten des Lebens ein unteilbares Ganzes, so ist im
Leben Kunst überall gegenwärtig gleichwie das Blut im Organis-
mus. Das zeigt sich denn auch anschaulich, wenn man bedenkt, daß
nicht nur einzelne Dichtungen, Tonwerke, Gemälde, Bildnereien,
Bauten, Zierate, Tänze, Aufführungen, Gartengestaltungen Kunst-
werke sind — auch die Sprache, die Gebärden, ja die Umgangsfor-
men und die Weisen des Sich-Verhaltens und Handelns sind es
bereits. Alle unsere Lebensäußerungen haben überall notwendig
etwas Gestaltetes an sich, also etwas von Kunst; demgemäß auch
stets einen bestimmten Stil.
Wie man es auch betrachte: Leben ist Kunst und Kunst ist Leben!
Kunst muß gelebt werden. Sie ist, wir wiederholen es eindring-
lich, keine Zugabe, kein nachträglicher Prunk, vielmehr wesens-
notwendiger Bestandteil des Lebens.
Und das bewährt sich auch vor dem einzelnen großen Kunst-
werke in der Geschichte. Was die Iliade und Odyssee den Griechen
gewesen, wie sehr sie an dem Werden der griechischen Kultur be-
teiligt waren, läßt sich gar nicht ermessen. Und was die Kunst der
Renaissance, was Shakespeare, was Goethe, Schiller und die Roman-
tiker dem europäischen und im besonderen dem deutschen Geistes-
leben bedeuteten, davon ist die Geschichte voll. Sogar das Aufkom-
men der „Moderne“ in der Kunst der letzten Zeit kann, trotz des
Verfalles, den sie darstellt, diese bildende (hier verbildende) Kraft
nicht verleugnen.