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nicht auf der Welt; es kann wirken und doch nicht bemerkt werden,

wirken und nicht ins allgemeine greifen; deswegen jede Geschichte

der Erfindung sich mit den wunderbarsten Rätseln herumschlägt“

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.

Es gab Zeiten, in denen die Wissenschaft der Ästhetik, wir nennen

sie lieber Kunstphilosophie, einen entscheidenden Einfluß auf das

Kunstleben hatte. Wir verweisen nur auf Winckelmann und Les-

sing, deren Kunstansichten die Poesie Corneilles und Voltaires aus

dem Sattel hoben, Shakespeare den Weg bahnten und besonders

auf Goethe den größten Einfluß hatten. Als später die Kunstphilo-

sophie Kantens auftrat, beherrschte sie bekanntlich Schiller, und

Goethe mußte sich mit ihr innerlich auseinandersetzen. Darnach

trat die Kunstauffassung der Romantik, hauptsächlich entwickelt

von den Gebrüdern Schlegel, hervor, und sie hatte wiederum den

größten Einfluß auf das Kunstleben. Sie veränderte das Kunst-

urteil gewaltig (wofür man nur auf Calderon, Cervantes, Lope de

Vega, Shakespeare, das Mittelalter hinzuweisen braucht) und übte

zusammen mit der ihr verwandten Kunstlehre Schellings und Hegels

bis zum Aufkommen des sogenannten Jungen Deutschland, wel-

ches wieder eine eigene Kunstansicht hatte, nämlich die naturali-

stische, ihre Herrschaft aus.

Von Winckelmann und Lessing bis zum Jungen Deutschland

sehen wir demnach die Kunstphilosophie als eine führende Kraft

im Kunstleben wirksam. Nicht daß sie künstlerische Begabung

ersetzen könnte, aber daß sie den jeweils auftretenden Begabungen

eine Ansicht über das, was K u n s t s e i , darbietet — das ist

ihre Stärke und die Quelle ihrer Kraft!

Ob nun die heutige Zeit von einer Lehre, welche den Namen

Kunstphilosophie verdient, überhaupt noch beeinflußbar sei? — das

ist die große Frage! Denn zwischen der Zeit von Winckelmann bis

zum Jungen Deutschland und der heutigen sowie gestrigen Zeit ist

ein grundlegender, ein durchaus entscheidender Unterschied: der

Verlust höherer geistiger Bildung! In der Zeit vor und nach Kant

war das gesamte deutsche Volk, soweit es auf Bildung Anspruch

erheben konnte, durchaus p h i l o s o p h i s c h gebildet. Das

Auftreten Kants und seiner Schule, darnach Fichtes, Schellings, He-

gels waren Ereignisse, welche die gesamte gebildete Welt Deutsch-

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Goethe: Maximen und Reflexionen, Ausg. Loeper Nr. 271.