83
A l l e i m R ü c k s c h r e i t e n u n d i n d e r A u f l ö s u n g b e g r i f f e n e n
E p o c h e n s i n d s u b j e k t i v ; d a g e g e n a b e r h a b e n a l l e v o r -
s c h r e i t e n d e n E p o c h e n o b j e k t i v e R i c h t u n g . Unsere ganze
Zeit ist eine rückschreitende; denn sie ist eine subjektive“
1
.
Bei allen großen Künstlern wird man ähnliches Lob der Objekti-
vität und inneren Wahrheit des Kunstwerkes finden. Ohne sie hätte
die Kunst keine volle Lebensberechtigung, wäre sie keine kultur-
tragende Kraft.
Wie die Eingebung in den jeweils verschiedenen geistigen Vorrat des Einzelnen
eingegliedert wird, zeigt sich, in großer geschichtlicher Linie gesehen, besonders
am S t i l u n d S t i l w a n d e l der verschiedenen Künstler, Zeitalter, Völker
und Kulturen. Da es dabei nicht allein auf die Eingebung als solche, sondern auch
auf ihre Rückverbundenheit im gesamten Kulturbesitz einer Zeit, insbesondere
auf deren metaphysisch-religiöse Einstellung, ankommt, behandeln wir diese
Fragen im Zusammenhange mit der Rückverbundenheit.
VII. Rückblick auf die Eingebung
Erwägt man alles in allem, so erkennt man die Unentbehrlichkeit
des Begriffes der Eingebung für die Erklärung des Schönen. Erst die
Eingebung lehrt uns verstehen, wieso in Kunstschöpfung und Kunst-
genuß der Mensch eine E r w e i t e r u n g s e i n e s S e l b s t e s
und sich an die ü b e r s i n n l i c h e Q u e l l e d e r D i n g e
zurückgeführt findet. Erst die Eingebung lehrt auch die innere
Wahrheit aller hohen Kunst verstehen und das sieghafte Bewußt-
sein, welches dem sonst so zurückhaltenden Grillparzer den Mut
gab, bei der Enthüllung des Denksteins am Grabe Beethovens
(Herbst 1827) zu sagen:
„Darum sind ja von jeher Dichter gewesen und Helden, Sänger und Gott-
erleuchtete, daß an ihnen die armen, zerrütteten Menschen sich aufrichten, ihres
Ursprungs gedenken und ihres Zieles.“
Ohne jedwede Eingebung ist der menschliche Geist — und wäre
es ein krankhaft-idiotischer im klinischen Sinne — nicht denkbar.
Aber auch als Erreger der leiblichen Lebenskraft ist Eingebung
unentbehrlich: Eingebung verleiht Jugend! Zwar sehen wir Mozart
1
Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe, 29. Januar 1826 (Sper-
rungen von mir. O. S.).
6*