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Fresken vor anderen, oft vor den ausgeführten Kunstwerken selbst
haben: sie geben zuerst die Vorstellung eines G a n z e n ; denn die
Gesamtgliederung, das Gesamtgepräge treten darin noch mit voller
Leichtigkeit hervor, die Kraft und die Echtheit der Grundeinge-
bung sprechen rein und unbeschwert zu uns. Man denke nur an
derartige Entwürfe Leonardos, Michelangelos, Raffaels, Parmegia-
ninos, Corregios, Dürers, Grünewalds und vieler anderer, stets
wird man trotz der verschiedenen Kunstrichtungen, die sich darin
aussprechen, das Gesagte bestätigt finden. Bei keinem der Genann-
ten fehlt die Fähigkeit der sorgfältigen Ausführung im einzelnen,
bei Dürer und Grünewald finden wir sogar eine ganz besondere
Meisterschaft darin; dennoch behaupten die oft nur andeutenden
Entwürfe ihren ureigenen Reiz und Zauber! Die Grundzüge der
Eingebung, das Wesen des Dargestellten in sich selbst, die noch
unbeschwertere Herrschaft des Geistes über die Materie sind es,
was solchen ersten Entwürfen Glanz verleiht.
Ähnlich muß in der Baukunst das Ganze vor dem geistigen Auge
des Künstlers stehen. Von diesem aus sind erst die Einzelheiten zu
bestimmen.
Wie steht es da aber mit der Dichtkunst? Ein Drama, ein Epos,
ein Roman wird durch den Blitz der Eingebung noch nicht als in
allen Grundzügen fertiges, bestimmtes Ganzes beleuchtet.
Hier gibt die Eingebung zunächst nur das schaffende Wesen, die
Seele des Gegenstandes, z. B. eine Gestalt wie Achilleus, Odysseus,
Siegfried, Hagen, Hamlet, Richard III. Nur eine solche Seele des
Dramas oder Epos oder Romans erfaßt vorerst die Eingebung. Von
dieser Seele aus müssen erst die Entsprechungs-, Ergänzungs- und
Hilfsgestalten mit ihren Schicksalen und Handlungen geschaffen,
die Geschehnisse im einzelnen ausgeführt werden.
Der erste, andeutende Entwurf kann daher hier nicht die gleichen
Reize haben wie in den bildenden Künsten. Solche Entwürfe, z. B.
der Aufzüge, Auftritte, Handlungen von Dramen, wie wir sie etwa
aus Schillers Nachlaß kennen, haben nur im Geiste des Dichters
jene Fülle, die beim Maler auch für den fremden Beschauer schon
Umrißzeichnung und Kartons haben.
Der Dichter bleibt, mit einem Worte, bei seinen Vorentwürfen
noch am schaffenden Grund der Ganzheit haften, während der bil-
dende Künstler schon die Gesamtzüge wiedergibt. Klar ist aber, daß