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Hieraus schließen wir, was sehr wichtig ist, daß für Platon die
Denkaufgabe, neben dem Gehalte die Gestalt als etwas davon Ver-
schiedenes zu erklären, gar nicht bestand! Wir können mit Sicher-
heit sagen, für Platon sei Gehalt wie Gestalt des Schönen mit der,
wie wir sagen wollen, w e s e n s v e r l e i h e n d e n I d e e oder
Gattung einerlei. Der Inbegriff der Rose oder ihr Wesensgehalt, die
Rosenheit, macht demnach zugleich ihre Gestalt im platonischen
Sinne aus.
Von der äußeren, räumlichen Gestalt erwähnt Platon meines
Wissens nur einmal das Ebenmaß (die Symmetrie) und bezeichnet
sie als Bedingung des Schönen
1
. Er preist auch die Harmonie
2
; aber
eine ausdrückliche Unterscheidung von Gestalt und Wesensinhalt
(Gehalt, Idee) finden wir nicht.
Auch für A r i s t o t e l e s sind
εϊδος
und
μοσφή
die wichtigsten
Bezeichnungen, die ebenfalls beide Bild, Art (also Idee) bedeuten.
Man kann auch sagen, Aristoteles gebrauche
,,μοσφή“
für die innere
Gestalt, innere Form eines Dinges; welche innere Form ihm aber
das begriffliche Wesen konstituiert
3
. (In diesem Sinne übersetzten
die alten Scholastiker
μοσφή
und
εϊδος
mit dem lateinischen
„forma“, was heute meist fälschlich als äußere Figur, räumlicher
Umriß aufgefaßt wird.) Demgemäß ist z. B. der oft angeführte
aristotelisch-scholastische Satz „Die Seele ist die Form des Körpers“
nicht räumlich (figural) zu verstehen; vielmehr lediglich dahin,
daß die Seele dem Körper seine Artbestimmtheit verleihe, das
Wesen seiner Organe usw. Die Menschenseele bestimmt darnach die
Art des menschlichen, die Löwenseele des löwenartigen Körpers. —
Auch bei Aristoteles suchen wir vergebens nach einer bestimmten
Unterscheidung von Gestalt und Gehalt.
Man kann sagen, erst bei K a n t sei ein neuer Standpunkt
erreicht worden. Seine Denkkategorien, z. B. Einheit, Substanz,
1
Platon: Timaios 87c, in: Platons Dialoge Timaios und Kritias, übersetzt und
erläutert von Otto Apelt, Leipzig 1919, S. 134 f. (= Philosophische Bibliothek,
Bd 179).
2
Platon: Timaios 47c, ... S. 71; Gesetze 689d f. und öfters, in: Platons
Gesetze, übersetzt und erläutert von Otto Apelt (= Philosophische Bibliothek,
Bd. 159), Leipzig 1916, S. 94.
3
i) oiöia -/.aza Aöyov:
Aristoteles, Metaphysik, übersetzt und mit einer Ein-
leitung und erklärenden Anmerkungen versehen von Eugen Rolfes, VII, 8-10,
Leipzig 1904 (= Philosophische Bibliothek, Bd 2/3), als innere Form dasselbe
wie
elöog
: Aristoteles’ Metaphysik, VIII, 6 (1045b, 18).