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lich gebraucht, sondern stets gewisse Einschränkungen macht; wenn
er sich auch dem herkömmlichen Sprachgebrauche, welcher Form
und Inhalt einander schlechthin entgegensetzt, manchmal nähert.
S c h e l l i n g wandte dem Gestaltsbegriffe keine Sorgfalt zu.
H e g e l neigt dazu, Gestalt und Gehalt als Einheit zu fassen,
aber so sehr unter dem Vorrange der Gestalt, daß man seine Ästhe-
tik mit einigem Rechte eine „Gestaltsästhetik“ nannte; keinesfalls
kann sie als „Formalästhetik“ bezeichnet werden
1
.
Die Herbart und Zimmermann folgenden „Formalisten“ pflegen sich auf
S c h i l l e r zu berufen, welcher in der Schrift „Uber die ästhetische Erziehung
des Menschen“ (22. Brief, 1795) schreibt:
„... Darin also besteht das eigentliche Kunstgeheimnis des Meisters, daß er den
Stoff durch die Form vertilgt; und je imposanter, anmaßender, verführerischer der
Stoff an sich selbst ist, ... desto triumphierender ist die Kunst, welche... über
diesen die Herrschaft behauptet“
2
(durch die Form).
Aber diese und ähnliche Äußerungen Schillers werden erstens insofern miß-
verstanden, als Goethe und Schiller neben Gehalt und Gestalt (Form) als Drittes
oft den „Stoff“ unterschieden (welcher Begriff nicht immer eindeutig war; der
Gehalt scheint mehr den Wert, der Stoff den allgemeinen Inhalt bedeutet zu
haben); zweitens auch insofern, als Äußerungen wie die angeführten nicht mehr
als eine besondere Hochschätzung der Form (in gewissen Zusammenhängen)
bedeuten. Daß es nicht Schillers Meinung war, der Gehalt sei wirklich durch die
Gestalt zu tilgen, aufzuzehren, beweisen viele andere Äußerungen Schillers. Zum
Beispiel sagt er in der „Huldigung der Künste“ (1804):
Doch Schönres find ich nichts, wie lang ich wähle,
Als in der schönen Form die schöne Seele
3
.
Ferner schreibt er an Körner (28. 7. 1800): „Jeder Stoff will seine Form, und
die Kunst besteht darin, die ihm passendste zu finden“
4
.
Hier sind Gestalt und Gehalt nicht nur deutlich unterschieden, sondern es ist
1
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Sämtliche Werke, Bd 6, Berlin 1832 ff.,
S. 37: „Die Formen der Idee sind ihre Bestimmungen, und es wäre nicht zu sagen,
wo noch ein anderer wahrer Inhalt herkommen sollte, als diese ihre Bestimmungen
selbst.“ - Ferner (Bd 8, § 134): „...der Inhalt als die entwickelte Form...“ -
desgleichen Bd 10, S. 34; Bd 12, S. 24 und öfters. - Dieser Gedanke Hegels ist
auch durchaus richtig, nur wäre er unseres Erachtens dahin zu ergänzen, daß durch
die Verbindung des geistigen Gehaltes (samt ihren Bestimmungen) mit Mitteln
fremder Ebene, nämlich Zeit, Raum und Sinnlichkeit, z. B. in der Dichtung des
Gedankens mit Rhythmus (Zeit) und Ton (Sinnlichkeit) ein neues Element er-
scheint, welches mehr ist als die bloße Bestimmtheit des Gedankens.
2
Friedrich von Schiller: Sämtliche Werke in 15 Bänden, Mit Erläuterungen
von Karl Goedeke, Bd 14, Stuttgart 1885, S. 167.
3
Friedrich von Schiller: Sämtliche Werke, Bd 6, Stuttgart 1885, S. 143,
Vers 195 f.
4
Schillers Briefwechsel mit Körner, Teil 4, Berlin 1847, S. 189.