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Sämtliche heutigen seelenwissenschaftlichen Richtungen stehen
grundsätzlich auf demselben Standpunkte. Eine Ausnahme macht
nicht einmal die Lehre von den „freisteigenden Vorstellungen“, wel-
che den Bildern und Vorstellungen der Phantasie zugrunde liegen
sollen; denn sie ist nur ein Versuch der Lockerung der Assozia-
tionsgesetze der Vorstellungen.
Schon in älterer Zeit machten manche geltend, daß das „freie Spiel
der Phantasie“ unmöglich aus den „Gesetzen der Ideenassoziatio-
nen“ folge, vielmehr aus dem ganzen inneren Zustande des Men-
schen erklärt werden müsse. So auch Zeller
1
. Nach Zeller, wie auch
anderen, sollen es insbesondere die „Gefühle“ sein, welche gerade
diejenigen Vorstellungen erregen, denen das „freie Spiel der Phan-
tasie“ sein Dasein verdankt
2
.
Was bei diesen und ähnlichen Wesenserklärungen der Phantasie
— heute gelten, wie gesagt, grundsätzlich dieselben, nur fällt die
Assoziation formell weg — übersehen wird, ist nur das eine, aller-
dings Wesentliche: Die Quelle der n e u e n seelischen Gebilde, die
in der schöpferischen Phantasie auftauchen, kann niemals in dem
schon vorhandenen Vorrat an Vorstellungen und sonstigen seeli-
schen Inhalten liegen. Das N e u e daran kann keineswegs bloß in
einer anderen Verbindung, Vertauschung der einzelnen Bestandteile
dieses Vorrates liegen!
Das Kunstwerk (ebenso wie die Entdeckung des Gelehrten) stellt,
falls es sich um etwas S c h ö p f e r i s c h e s handelt, keine bloße
Verkettung, Verbindung von Bestandteilen — des Schatzes an Gei-
stesinhalten — dar; denn es liegt ja grundsätzlich Neues, das vor-
her nicht da war, vor. Es wäre geradezu lächerlich, Odysseus, Bea-
trice, Don Quichotte, Falstaff, Timon von Athen, Goethes Iphigenie
aus den jeweils schon vorhanden gewesenen Vorstellungs- und Ge-
fühlsinhalten des Dichters erklären zu wollen. Ebenso in den bilden-
den Künsten: Der gotische Dom, der Barockdom, Michelangelos,
Leonardos, Caspar David Friedrichs, Ronges, Schwinds Gestalten —
sie alle waren neu geschaffen, waren vorher in ihrem inneren Wesen
nicht da; wie sehr oder wie wenig sie sich dabei auch überkom-
mener Inhalte als M i t t e l bedienten.
Das Neue, Schöpferische allein ist das Entscheidende — und ihm
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Eduard Zellers Kleine Schriften, ..., S. 595.
2
Eduard Zellers Kleine Schriften,..., S. 597.
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