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V.
Irdische und überirdische Schönheit
Die Frage, ob es Schönheit nur im Bereiche des zeiträumlich-
sinnlichen Daseins gebe oder auch im übersinnlichen, beschäftigte
mit Recht die idealistische Kunstphilosophie
1
.
Schelling bestimmte im Sinne platonisch-plotinischer Grundauf-
fassung die Kunst als „die Darstellung des Unendlichen im End-
lichen“, welcher Bestimmung sich auch Goethe anschloß.
Ohne die Darstellung oder Gestaltung im Irdischen, das ist im
Zeiträumlich-Sinnlichen, gäbe es danach keine Kunst. Und doch
nannte Platon im „Gastmahl“ die reine Ideenwelt und die Gottheit
„das Schöne an sich“.
Wie wäre dieser Zwiespalt zu lösen?
Der Begriff der Rückverbundenheit ist es, welcher uns hier wei-
terhelfen muß, da gerade er uns das Überweltliche am Schönen ver-
stehen lehrt.
Der Urgrund des Schönen wird uns durch den tiefsten Einge-
bungsgrund erschlossen (man erinnere sich an das Beispiel der „Ma-
gie des Wassers“ in Goethes „Fischer“). Aber er ist noch ohne
geistiges Bild, das, was wir „Urbild“ nannten (im „Fischer“ die
Nixe!). Erst das geistige Urbild, dessen Entsprechungsbilder und
der Übergang auf die zeiträumlich-sinnliche Ebene, erst das ist es,
was als G e s t a l t das Schöne hier in Erscheinung treten läßt!
Daher in der Dichtung das Schöne erst durch die Bedeutung und
den Lautbestand des Wortes, ferner durch Silbenmaß, Akzent,
Reim; in der Malerei durch Zeichnung und Farbe auf Leinwand,
Holz oder Papier, in der Plastik durch Bildung in Marmor, Bronze
und anderes mehr in Erscheinung tritt.
Die rückverbundene Eingebung führt uns durch einen Auf-
schwung zur ideellen Welt: zur Wurzel des Schönen. Ist diese selbst
nun ohne j e d e n Bezug zur zeiträumlich-sinnlichen Welt? Das ist
die große Frage, die eigentliche Schicksalsfrage unserer Denkauf-
gabe!
Wäre nun das Übersinnlich-Schöne ohne jeden Bezug zur sinn-
lichen Formenwelt, dann könnte es ja vom Künstler niemals dar-
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So Julius Hamberger: Christentum und Kultur, Erlangen 1863, S. 60 ff.,
indem er sich gegen M. Cariere wendet.