I. Das Gesamtgepräge des Kunstwerkes oder der Stil
Formell gesehen ist Stil: durchgängige Ebenbildlichkeit aller Glie-
der in einem Ganzen (wie wir an anderer Stelle begründeten
1
).
Diese durchgängige Ebenbildlichkeit eines Kunstwerkes und der
Kunst ganzer Zeiten und Völker hat aber wieder einen tieferen
Grund: erstens in der Artung der Eingebungen selbst; zweitens, und
vor allem, in deren Eingliederung in die jeweils im schaffenden
Künstler schon vorhandenen Geistesinhalte.
Hier könnte sich nun der Einwand erheben, daß die echte Ein-
gebung nach unseren früheren Ergebnissen ja immer wahr, daher
grundsätzlich immer dieselbe sein soll! Die Künste aller Zeiten
müßten sich dann in großen Zügen gleichen. Dagegen zeigt die
Geschichte ungeheure Verschiedenheiten der Stile! Wenn z. B. die
Eingebung einen Berg in seiner inneren Wahrheit und Wesenheit
immer als denselben, die Rose in ihrem Wesen immer als dieselbe
erfaßt — woher dann die verschiedenen Stile?
Dieser Einwand hält in Wahrheit nicht Stich. Denn zunächst:
Die Eingebung kann wahr und doch verschiedenen Inhaltes sein.
Der schöne Vogel Pirol z. B. kann als ein Märchenvogel und Bote
aus dem Morgenlande, oder aber als Art einer Gattung (in der Tier-
kunde) oder auch nur als nützlicher Insektenvertilger aufgefaßt
werden. Die Eingebung und Beobachtung nimmt hier denselben
Gegenstand wahr, aber von verschiedenen Seiten her!
Zweitens soll sich die Eingebung in der Kunst ja gestalten, das
heißt aber, sie muß mit jenen verschiedenen Mitteln arbeiten, wel-
che sie jeweils vorfindet. Je nach diesen verschiedenen Mitteln
erscheint die Eingebung in einem anderen G e i s t e s z u s a m -
m e n h a n g e. Anders gesagt: auf die E i n g l i e d e r u n g der
Eingebung in den jeweils verschiedenen Geisteszusammenhang,
welcher dem Künstler geschichtlich gegeben ist, kommt es für die
Stilbildung vor allem an!
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Vgl. mein Buch: Kategorienlehre, 3. Auf]., Graz 1969 [= Othmar Spann
Gesamtausgabe, Bd 9].