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nur an die mystischen Lehren von Bernhard von Clairvaux bis zu
Meister Eckehart denken. Als diese Frömmigkeitsrichtung, die da-
mals tief in das Volk drang, wich, mußte sich der gotische Stil auf-
lösen. Die sogenannte Spätgotik, später der Barockstil kam herauf.
Gehen wir von da in die Urwelt zurück, so finden wir die
berühmten H ö h l e n m a l e r e i e n v o n A l t a m i r a . Die
Tierdarstellungen sind dort so vollkommen, daß bei uns heute nur
die allergrößten Maler wie etwa Leonardo und Dürer derartiges
leisten könnten! Wie ist diese Vollkommenheit und der in ihr lie-
gende Stil, welcher von der innersten Seele des Tierwesens heraus
(bei größter Sachtreue der Außenseite) bestimmt ist, zu erklären?
Die Antwort kann wieder nur durch Rückgang auf die sakralen
Anschauungen jener Zeit gefunden werden.
Nach unserem Erachten ist es das t o t e m i s t i s c h e V e r -
w a n d t s c h a f t s g e f ü h l des Menschen mit dem Tiere, welches
allein den Künstler zu so großen Leistungen, die nur aus innerster
Einfühlung zu begreifen sind, befähigte. Ich leitete in meiner „Reli-
gionsphilosophie“ den Totemismus aus dem Seelenwanderungsglau-
ben her
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. Versetzt man sich da in jene Zeit, so ist es verständlich,
daß jene, welche in den Tieren ihre Ahnen verkörpert sahen, ganz
anders mit ihnen fühlten und lebten als die späteren Zeiten! Der
Künstler stand daher damals — es handelt sich bei jenen Bildern
wahrscheinlich um die Ausübung eines noch jetzt bei Naturvölkern
geübten Jagdzaubers — vor einer anderen inneren Aufgabe als die
Künstler in christlicher Zeit.
Durch die totemistische Geisteshaltung und die Eingliederung der
Eingebung in sie ist demnach hier der Stil geprägt.
Eine verwandte Denkaufgabe stellt der G e o m e t r i s c h e
S t i l . Wir finden ihn bekanntlich in der vorgeschichtlichen Kera-
mik ebenso wie in der griechischen Vasenmalerei des neunten bis
siebenten Jahrhunderts v. Chr. und im Dypilonstil. Kreise, Vier-
ecke, Rechtecke, Rauten, Parallelen, Zickzacklinien und dergleichen
herrschen in ihm vor.
Die alte Auffassung, daß wir hier die ersten Anfänge der Kunst
überhaupt vor uns hätten, indem Zaungeflechte und Korbgeflechte
(oder Abdrücke der letzteren) die Grundlage dafür gebildet hätten
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Vgl. mein Buch: Religionsphilosophie, 2. Auf]., Graz 1970, S. 166 [= Othmar
Spann Gesamtausgabe, Bd 16].
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