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Dabei ist es klar, daß die A s t r o l o g i e stets einen Teil der Sternenreligion
bilden mußte.
Auf dem Sternenhimmel nun waren geometrische Verhältnisse zu beobachten.
Ihre Übertragung auf die bildenden Künste lag nahe. Wie denn auch nachgewie-
sen ist, daß die Grund- und Aufrisse der alten Baukunst bis einschließlich der
Gotik bestimmten geometrischen Typen folgten. E r n s t M ö s s e 1, dem wir
darüber die vielfältigsten Nachweise verdanken, führt unter anderem darüber ein
Wort aus Cantors „Geschichte der Mathematik“ an: „Nicht bloß ein einzelner
Tempel, die ganze dem römischen Gesetz unterworfene Welt war nach einem
einzigen rechtwinkligen Koordinatensystem geordnet“
1
. - Auch das Vorherrschen
jeweils anderer Zahlen und Zahlenverhältnisse, wie z. B. Sechs oder Acht, deutet
meines Erachtens klar auf bestimmte Planetengötter. Zum Beispiel ist Sechs die
heilige Zahl der Aphrodite-Venus.
Die geometrischen Gestalten gehören der makrokosmischen Welt und im
kleinen auf besonders sichtbare Weise der Kristallwelt an; mithin dem ele-
mentaren stofflichen Geschehen. Schon daraus folgt, daß der geometrische Stil
k ü n s t l e r i s c h a l s d e r ä r m s t e erscheinen muß. Die makrokosmischen
und chemisch-physikalischen Elementargestalten sind die g e i s t e s f e r n s t e n ,
welche es überhaupt in der Natur gibt.
Je g e i s t e r f ü l l t e r d i e K u n s t , u m s o w e n i g e r w i r d s i e d a -
h e r u n m i t t e l b a r v o n s t a r r e n g e o m e t r i s c h e n G e s t a l t u n -
g e n G e b r a u c h m a c h e n .
Der Astralreligion durch geometrischen Stil zu folgen, ist also kein Z w a n g ,
wohl aber ein Impuls für die Kunst.
Daß dies in gewissen Fällen nicht zu umgehen ist, wie in den Grund- und
Aufrissen der Bauten oder beim Darstellen der menschlichen Gestalt, an welcher
die künstlerische Anatomie längst bestimmte, geometrisch und arithmetrisch faß-
bare Verhältnismäßigkeiten nachwies, braucht nicht näher auseinandergesetzt zu
werden.
Alle diese Beispiele lehren das gleiche: Die Eingebung ist, wenn
sie in die Tiefe dringt, überall dieselbe, aber sie kann den Gegen-
stand jeweils von einer anderen Seite nehmen und ihn ferner durch
Eingliederung in das Gesamtganze der Geistesinhalte der Zeit auf
bestimmte Weise prägen. Dadurch entsteht der Stil. Je einheitlicher
die Kultur einer Zeit ist, umso geringer ist die Abwandlungsbreite,
welche dem einzelnen Künstler zur Verfügung steht. Eine solche
Möglichkeit fehlt aber zu keiner Zeit gänzlich.
Im folgenden werden wir zeigen, daß es innerhalb aller geschicht-
lichen Stile wenigstens die Möglichkeit gibt, den jeweiligen Stil in
dreierlei Weise zu behandeln: k l a s s i s c h , r o m a n t i s c h
1
Ernst Mössel: Vom Geheimnis der Form und der Urform des Seins, Stutt-
gart 1938, S. 397. - Mössel geht allerdings meines Erachtens zu weit und bedenkt
nicht, daß andere als geometrische Verhältnisse in den Raumkünsten, insbeson-
dere in der Baukunst, ja nicht möglich sind.