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Wir behaupten also, die Eingebung müsse überall Wahrheit und
sogar dieselbe Wahrheit haben, sofern sie in die Tiefe dringt und
den Gegenstand von derselben Seite nimmt; aber ihre Eingliederung
in Geistes- und Kulturinhalte verschiedener Prägung, das heißt, ihre
Gliedhaftigkeit macht sie verschieden. Und diese verschiedene
Gliedhaftigkeit ist es vor allem, welche stilbegründend wirkt.
Daraus folgt, daß man aus Stiländerungen Blicke in die geistigen
Änderungen der Zeiten tun könne, aus denen die betreffenden
Kunstwerke stammen. Stiländerungen zeigen notwendig stets Wen-
dungen oder Brüche in dem Gefüge und den Grundinhalten der
Kulturen an.
Das soll sogleich an einigen Beispielen erläutert werden.
II. Beispiele aus der Stilgeschichte
Zunächst möge die Bedeutung, welche die Eingliederung in ver-
schiedene Zusammenhänge hat, an dem Beispiele einer einfachen
Sinnesempfindung klar gemacht werden. Nehmen wir die Empfin-
dung „rot“, also eine rote Fläche, so weiß jeder, daß sie im Zusam-
menhange mit gelb, grün, blau, violett, weiß, schwarz jeweils ein
a n d e r e s A n s e h e n erhält.
In geistiger Hinsicht steigert sich die Bedeutung der Eingliede-
rung in verschiedene Zusammenhänge noch bedeutend. Ein und die-
selbe Erkenntnis oder Tatsachenfeststellung kann z. B. in einen
materialistischen,
positivistischen,
atheistischen,
metaphysischen
oder mystischen Erkenntnis- und Gefühlszusammenhang eingeglie-
dert, einen jeweils a n d e r e n S i n n , eine andere Deutung be-
kommen. Dadurch muß aber auch das Kunstwerk ein anderes
Grundgepräge — einen anderen Stil erhalten, z. B. einen realisti-
schen, klassischen, romantischen (was wir später genauer zu untersu-
chen haben).
Das mögen uns einige Blicke auf die großen geschichtlichen Stile,
die scheinbar so unüberbrückbar weit auseinander liegen, beweisen.
Einen völlig fremdartigen Stil hat für den Europäer die Kunst
C h i n a s u n d J a p a n s . Die Naturdinge, z. B. der heilige Berg
Fudschijama, erscheinen wie schwerelos, fast schwebend. Wie ist das