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den Mangel des Organs, wie er besonders in Gehirnkrankheiten
vorliegt, nicht zu bestehen aufhöre, ergibt sich ja mit logischer Not-
wendigkeit von selbst. Auch bleibt sogar beim Irren noch immer
ein Rest von Denken und Gedächtnis, also Selbstsetzung, Actus
purus, Ichheit. Erf ahrungsgemäß aber ist meine Behauptung
überdies gut gestützt. Es ist eine alte psychiatrische Erfahrung, daß
selbst bei organischen Gehirnkrankheiten Geisteskranke in der
Hypnose und vor allem vor dem Tode ihre Klarheit meist wieder-
gewinnen. Aufhören der Schmerzen, ein Gefühl der Freude, des
Entzückens kennzeichnen dieses „Wetterleuchten vor dem Tode”.
Der Zerstreuer:
Das wäre ein Lichtblick in der Finsternis?
Der Sammler:
Ein Wink von oben! Beethoven soll vor dem Tode sein Gehör,
Bach sein Augenlicht wieder erlangt haben. Von Thomas von Aquino,
Herder, Schleiermacher, Möhler und vielen anderen ist bezeugt,
daß sie kurz vor ihrem Tode erklärten, nun ganz andere Werke
schreiben zu können, ganz neue Einsichten erlangt zu haben. No-
valis schrieb vor seinem Tod:
„Unerhörte, gewaltige,
Keinen sterblichen Lippen
entfallene
Dinge will ich sagen.”
Welch ein Beweis der Macht des Geistes über den Stoff! Genauer
gesagt, ein Beweis, wie die Naturgrundlage, nämlich das körper-
liche Organ, dem Geiste zwar zumeist unentbehrlich ist, er aber
doch Macht hat, sich darüber zu erheben. Dafür sprechen ja auch
die früheren Beispiele Abstürzender und Ertrinkender, denen in
wenigen Augenblicken ihr ganzes Leben im Gedächtnis vor die
Seele tritt — mit demselben Gehirn, das normalerweise dazu nicht
imstande ist.
Wie ein guter Spieler auch der schlechten Geige herrliche Töne
zu entlocken vermag, so kann auch der aufgeschreckte Geist seinem
verdorbenen Organe besondere Leistungen abtrotzen.
Das ist also meine erste Erwiderung: den Erfahrungen der Natur-
abhängigkeit unseres Geistes steht die Unantastbarkeit seines Wesens
und stehen auch viele Fälle von relativer Naturunabhängigkeit gegen-
über.