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nicht ausreichend zu sein, denn sie ist in der Vereinzelung zu starr
und statisch. Weiter kommt man, wenn man im Kunstwerk das
Spannungsgefüge beobachtet. Broder Christiansen
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z. B. unter-
scheidet vier Modi: das gerade Gefüge, in welchem auf die Span-
nung die Lösung folgt, das gekehrte Gefüge, in welchem die Lösung
der Spannung vorangeht, das vollgespannte Gefüge mit zwei Span-
nungen und das vollgelöste mit zwei Lösungen. Diese Spannungen
bestimmen in entscheidender Weise das innere Gefüge aller Kunst-
werke, sei es aus dem Bereiche der Dichtung, der Musik oder der
bildenden Künste und des Tanzes. Es ist zu eng, die Lehre von den
Spannungen nur auf das Wortkunstwerk und dort vor allem auf das
Schauspiel anzuwenden. Für die bildenden Künste hat Heinrich
Wölfflin
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das Lineare und das Malerische, die Fläche und die Tiefe,
die geschlossene und die offene Form, die Vielheit und Einheit,
die Klarheit und Unklarheit begrifflich dargetan. Diese und ähnliche
Begriffe haben in der Kunstwissenschaft jeweils den Charakter spe-
zieller Kategorien.
Die Rückverbundenheit des Schönen bildet die Rückverbundenheit
von Welt und Leben. Wie Spann meint, tritt in der romantischen
Kunst die mystisch-rehgiöse Seite, das ist die Rückverbundenheit des
Schönen, stärker hervor als in der klassischen, und er erklärt dies
damit, daß sie zum Himmel schreie und Rettung vor dem Unter-
gang suche. In diesem Sinne sind Beethoven und Schubert, aber
auch Bruckner Romantiker, weshalb das Übersinnlich-Göttliche in
den Vordergrund trete. Goethe war es ja, der die Gotik 1772 am
Beispiel des Straßburger Münsters entdeckte, sie dadurch dem da-
mals falschen Bild des Mittelalters entriß und eine Grundlage für
alles Romantische schuf. Doch tritt in Spanns Buch eine Überbewer-
tung der Gotik hervor, wenn er meint, daß diese Kunstrichtung durch
keinen Stil in der gesamten Kunstgeschichte der Welt übertroffen
werde (Bd 19, 210). Spann wird eigenartigerweise sowohl der Roma-
nik als auch dem Barock nicht voll gerecht. Wo doch die Romanik in
anderer Weise zwar, aber dennoch nicht minder stark, das Über-
sinnliche in ihre Bauten bannte und der Barock mit seinem jubeln-
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Broder Christiansen: Die Kunst, Buchenbach 1930, S. 38 ff.
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Heinrich Wölfflin: Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, München
1929