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auch die höchste Ganzheit, der jenseits und über seiner Schöpfung

waltende Welterhalter, im tiefsten Grunde aller seiner Geschöpfe als

das göttliche „Fünklein“ verborgen sein. Vermag nun die mensch-

liche Seele alles Äußerliche von sich zu streifen und „aller Dinge ledig“

zu sein, dann bleibt in dem Bewußtsein nichts mehr übrig als dieses

Fünklein, dann „wird Gott in der Seele geboren“. Das Leermachen

von allen weltlichen Dingen war darum zu allen Zeiten das höchste

Gebot mystischer Lebensführung. Eines solchen Erlebnisses wurde

Wilhelm Wundt als ein von den Ärzten schon aufgegebener Tod-

kranker teilhaftig. Der vom leiblichen Tode schon Erfaßte hat den

„mystischen Tod“ erlitten und die Auferweckung seiner Seele

durch himmlische Verklärung in jungen Jahren selbst erlebt.

Wundt schreibt in seinem selbstbiographischen Alterswerk

4

, er

habe damals wie Meister Eckehart das „Gefühl der Gottheit in der

eigenen Seele“ gehabt, das Einssein mit dem göttlichen Wesens-

kern. Im Geiste eines Mystikers sagt er: „Wo soll in der Tat das

menschliche Bewußtsein die Gewißheit eines göttlichen Seins her-

nehmen, wenn nicht aus dem eigenen Sein“

5

. Für ihn ist dieses

Erlebnis — wie für jeden Mystiker — das sein weiteres Leben be-

stimmende. Aber in welcher Weise und in welchem Sinne bestim-

mend? Darauf hat uns Wundt eine verhängnisvolle Antwort gegeben.

Er wurde der höchsten „Eingebung“ gewürdigt, die dem mensch-

lichen Geiste zuteil werden kann: Gott selbst hat sich ihm gegeben.

Wie schwer solche Erlebnisse zu bewältigen, solche „Eingebungen“

(im Sinne des Schöpfungsganges des Geistes) zu „verarbeiten“ sind,

zeigt die Religionsgeschichte durch die vielen pantheistischen Aus-

deutungen mystischer Erleuchtungen. Noch Verhängnisvolleres aber

widerfuhr dem von der aufgeklärten Naturwissenschaft herkom-

menden jungen Gelehrten, der in strengster wissenschaftlicher

Gewissenhaftigkeit glaubte, sich nichts schenken, keine Voraus-

setzung als gegeben annehmen zu dürfen, nicht einmal die Existenz

der eigenen Seele. Für seinen empiristischen „Aktualitätsbegriff der

4

Wilhelm Wundt: Erlebtes und Erkanntes, Leipzig 1920, S. 116 f., angeführt bei Hans

Volkelt: Grundfragen der Psychologie, München 1963, S. 149 ff.

5

Wilhelm Wundt: Erlebtes und Erkanntes, S. 132 und 151.