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nirgends erscheinenden (also unoffenbaren) Ganzheit des eigenen
Ich und die Rückverbundenheit in den übersubjektiven Ganzheiten
(insbesondere im „Menschheitsgeiste“, in der Idee der Menschheit).
Der ersteren entspricht das „ I n d i v i d u e l l - U n b e w u ß t e “
Freuds, der zweiten das ,,K o l l e k t i v - U n b e w u ß t e “
Jungs. Die in der psychoanalytischen Praxis gewonnenen Erkennt-
nisse der Tiefenpsychologie bestätigen die philosophischen der Ganz-
heitslehre, die freilich als echte „Pneumatologie“ jene weit zu über-
höhen vermochte.
Die vorurteilsfreie Weiterführung dieser Praxis bringt schließlich
Phänomene ans Tageslicht, die als eine großartige Bestätigung jener
Steigerungsmöglichkeiten des menschlichen Geistes anzusehen
sind, auf welche die ganzheitliche Pneumatologie schon aus ihren
kategorialen Voraussetzungen hinzuweisen vermochte. Der Psycho-
therapeut W i l h e l m S t a e h e l i n (geb. 1923) berichtet in
seiner Schrift „Die Welt als Du“, daß ihn die Vorarbeiten für einen
rein praktischen Vortrag, nämlich über die Psychosomatik des zu
niederen und zu hohen Blutdruckes, zu diesem Buche
16
geführt
haben. Eingangs betont er: „Diese Wirklichkeitsanalyse strebt also
an, am schon lange notwendigen Brückenschlag zwischen Psycho-
logie, Medizin und Religion mitzuarbeiten. Der Grundpfeiler dieses
Bemühens ist — so seltsam dies klingen mag — die Mystik“
17
.
Welch erstaunlichen, vor Jahrzehnten gewiß noch für unmöglich
gehaltenen Weg hat die Tiefenpsychologie seit Freud zurückgelegt,
von dem Staehelin sagt: „ S i e g m u n d F r e u d , der ohne Zweifel
geniale Pionier unseres Jahrhunderts für die Medizinpsychologie und
Psychotherapie, einer der Großen . . .
18
schreibt: ,Es gibt keine
Instanz über der Vernunft'. ,Nein, unsere (Natur-) Wissenschaft ist
keine Illusion. Eine Illusion aber wäre es zu glauben, daß wir anders-
woher bekommen könnten, was sie uns nicht geben kann.' ,Von
16
Wilhelm Staehelin: Die Welt als Du, Zürich 1970, S. 16. Schon der Titel des Buches
läßt erkennen, daß auch hier der Weg des Ich über das Du zum „Über-Dir“ emporsteigt.
17
Wilhelm Staehelin: Die Welt als Du, S. 13.
18
Mit dieser Hochschätzung eines Vorgängers, dessen Lehre er weit überholt hat, stellt
sich Staehelin (wie Volkelt gegenüber Wundt) ein schönstes Zeugnis menschlicher und
wissenschaftlicher Redlichkeit aus.