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dieser Leibeigenschaft (den religiösen Lehren) bin ich frei, sind wir
(Psychoanalytiker) frei' (aus: Die Zukunft einer Illusion). Freuds
Philosophie also ist die des naturwissenschaftlichen Materialismus“
19
.
Dieser Auffassung stellt Staehelin mit aller Entschiedenheit die Worte
entgegen: „Der praktische medizinische und medizin-psychologische
Alltag belehrt uns jeden Tag, daß der naturwissenschaftliche Materia-
lismus nicht recht haben kann“
20
.
Gegen die vom Existenzialismus Heideggers behauptete Grund-
befindlichkeit der Angst wendet er sich mit gläubiger Zuversicht:
„Die Grundbefindlichkeit ist für uns gleichsam das von Freud er-
wähnte ozeanische Gefühl
21
, das Urvertrauen“
22
. Dieses leitet er ab
aus dem mystischen Wesenskerne des Menschen, auf welchen er bei
seinen psychotherapeutischen Behandlungen
23
erstaunlicherweise
immer wieder gestoßen ist. „Wir sind alle unserer Wesensnatur nach
Mystiker“
24
. Zu einem Worte des großen Mystikers Angelus Silesius
25
postuliert er: „Das Theozentrische — das Göttliche auch in jedem
von uns — hat wieder den Einzelnen, die Wissenschaft, die Politik
als Selbstverständlichkeit bewußt zu beseelen: das wäre vielleicht
ein Ausstieg aus dem heutigen individuellen und politischen Positivis-
mus, Materialismus und Rationalismus. Denn so entspricht es der
Natur jedes Menschen“
26
.
Das große mystische Jugenderlebnis des Arztes Wilhelm Wundt
erweist sich nun in der medizinischen Wissenschaft als „Grundbefind-
lichkeit“ des menschlichen Wesenskernes, von dem Angelus Silesius
sagen konnte: „Ich bin Ewigkeit“.
19
Wilhelm Staehelin: Die Welt als Du, S. 34.
20
Wilhelm Staehelin: Die Welt als Du, S. 32.
21
Gemeint ist das Religiös-Metaphysische, das Freud von sich wies: „Ich selbst kann
dieses ozeanische Gefühl nicht in mir entdecken“. (Angeführt bei Wilhelm Staehelin: Die
Welt als Du, S. 25).
22
Wilhelm Staehelin: Die Welt als Du, S. 40.
23
Siehe Wilhelm Staehelin: Urvertrauen und zweite Wirklichkeit, Zürich 1973.
24
Wilhelm Staehelin: Die Welt als Du, S. 55.
25
Siehe unten.
26
Wilhelm Staehelin: Die Welt als Du, S. 65 f.