114
[88/89]
Einzelnen zu den Ganzheiten muß die Bewährung dafür liegen, ob sein
eigenes Wesen richtig erfaßt wurde und ein begreifliches Verhältnis der
Eingliederung sich ergibt.
Das vollständige Urteil und die entscheidende Einsicht über Wert und
Unwert der Einzelheitslehre wird erst später möglich sein, wenn wir auch
das ihr entgegengesetzte Lehrstück, die Ganzheitslehre (den
Universalismus) kennengelernt haben; aber die Verfolgung der auf- /
geworfenen Zweifelsfrage wird uns bereits über die Grundstellung der
Einzelheitslehre belehren.
1. Verfolgen wir zuerst die Anknüpfung des Einzelnen an das
gesellschaftliche Ganze, an den andern Menschen
1
: Da begegnen wir einer
uns nicht unbekannten Schwierigkeit: Die Selbstwüchsig- keit ist ihrem
Begriffe nach Losreißung des Einzelnen von dem andern, weil sie ja eben
das Beruhen in sich, die Selbstgegründet- heit, ausspricht. Die
Einzelheitslehre sieht notwendig das Reich der Menschheit an als ein
Reich isolierter selbstgenüglicher Geistigkeiten. Das individualistische
Denken faßt die Menschen etwa in der Art, wie wir uns die Bäume im
Walde vorstellen könnten. Der einzelne Baum sei etwas, das durch eigene
Keimkraft emporgewachsen ist, s e l b s t in der Erde wurzelt, selbst sich
zum Gewächs gestaltet. Die Bäume wachsen auch grundsätzlich
unabhängig voneinander, „Wald“ kann man als eine bloße Anzahl von
einzelnen, ganz selbständigen Wachstumskräften, Wachstums-Autarkien
ansehen; ebenso die Gesellschaft als Summe autarker Geister. Die
1
Es darf den Anfänger nicht stören, daß hier und später von mehrerlei „Ganzheiten“ die
Rede ist. Auch sind, wenn wir das allgemeine gesellschaftliche Verhältnis der Menschen
ganzheitlich begreifen, alle Sondergebiete des gesell- schaftlichen Lebens, wie Staat, Kirche,
Familie, Völkertum, wieder Ganzheiten für sich, Unterganzheiten. Das Wesentliche, das der
Anfänger in der Folge an der Ganzheit zu begreifen hat, ist: das G e f ü g e d e r
G a n z h e i t (die Struktur) als neue und entscheidende Grundtatsache im Gegensatze zur G
e - f ü g e l o s i g k e i t d e s H a u f e n s (Strukturlosigkeit) zu verstehen. —Von da aus ist
dann leicht zu erkennen, daß ein Gegenstand mit ganzheitlichem Gefüge auch ein
grundsätzlich anderes V e r f a h r e n der Forschung fordert als der mechanische Haufen.
Beherrscht
man
endlich
die
K a t e g o r i e n
d i e s e s
V e r f a h r e n s
(Ausgliederungsordnung;
Gliedhaftigkeit;
Rang;
Leistung;
Ebenbildlichkeit;
Rückverbundenheit und so fort), dann vermag man auch mühelos die v e r s c h i e d e n e n
A r t e n v o n G a n z h e i t e n zu überblicken, mit denen es die ganzheitlichen
Wissenschaften (und das sind alle Geisteswissenschaften) zu tun haben. — Vgl. unten
fünftes Buch unter „Verfahrenlehre“, S. 633 ff.