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eigene Keimkraft schafft den Baum, die eigene geistige Schöpfungskraft ist
es, die den Menschen sich selbst gibt.
Angesichts einer solchen Vorstellungsweise muß man aber fragen: Gibt
es denn wirklich etwas Geistiges, das so wahrhaft in sich beruht, so frei in
der Welt schwebt? Es muß doch eine w e s e n h a f t e Verbindung mit
anderen da sein! Der Baum wurzelt wenigstens in der Erde (er steht auch
im Zusammenhange mit der andern Pflanzenwelt usw.), der einzelne Geist
müßte aber wirklich frei und losgelöst / in der Welt des Geistigen
schweben, wenn er wesenhaft aus eigener Keimkraft sich gestaltete! Wir
können diesen Gedanken erst später weiterverfolgen. Aber die
A n k n ü p f u n g a n d i e a n d e r n G e i s t e r , das Enthaltensein im
Ganzen der Gesellschaft — das erkennen wir nun deutlicher als früher als
die drohende Schicksalsfrage, die der Individualismus beantworten muß.
2. Die Anknüpfung an die kosmische Welt ist die zweite große Frage.
Der Individualismus mißachtet sie aber ebenso wie die an das Geistige.
Notwendig ist ihm der Einzelne — als das frei sich Erzeugende — auch der
Mittelpunkt der Welt. Daher Prometheus sogar mit Zeus rechtet in seiner
absoluten Selbständigkeit: „Und dein nicht zu achten, wie ich.“ Und doch
kann das absolut Selbständige auch wieder nicht eigentlich Mittelpunkt
sein, da ja keine wesenhafte Verbindung mit irgend etwas angenommen
werden kann, daher der reine Begriff des Einzelnen nach dieser Seite hin
zu Ende gedacht lautet:
Der E i n z e l n e a l s d e r a b s o l u t E i n s a m e .
Sind diese Folgerungen der Einzelheitslehre annehmbar? Schon die
Sonderung von den andern Geistigkeiten in der Gesellschaft, das scheinbar
so leichte Sich-auf-sich-selbst-Zurückziehen ist in Wahrheit gänzlich
unmöglich; sie widerspricht aller Erfahrung. Eine w e s e n h a f t e
Anknüpfung an die andern Menschen, an die gesellschaftliche Ganzheit
muß vielmehr gefunden werden, weil sie allein der Wirklichkeit
entspricht. V o l l k o m m e n e V e r e i n z e l u n g i s t g e i s t i g e r
T o d — diese Erkenntnis allein vernichtet jeden folgerechten
Individualismus. Wir werden ihr später gründlich nachzugehen haben
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Auch Mörikes angeführte Verse halten an der inneren Einsamkeit nicht
fest, sondern bereiten nur die Verbindung der Seele mit Gott vor.
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Siehe unten S. 129 ff.
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