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ermöglicht: Der Einzelne muß so begriffen werden, daß er im Ganzen
enthalten sein kann, daß eine w e s e n h a f t e Anknüpfung an die
andern Geister (wie an das Weltganze) gefunden und so seine Befreiung
von der wahnwitzigen und unfruchtbaren Rolle des auf sich allein
pochenden, mit Gott und der Welt rechtenden Prometheus erlangt wird.
— Als Aufgabe bleibt dabei jedoch noch übrig, die ungeheure Kraft, die
der Individualist als selbsterzeugende Keimkraft auffaßt, in den Dienst
jener „Anknüpfung“ zu stellen. Da ist es nun lehrreich zu sehen, daß alle
Heraklesdichtungen dieses Problem der Anknüpfung des individuellen
Schaffens an ein Übergeordnetes, Höheres (also Ganzes) in den
Mittelpunkt stellen. Als der Herakles des Euripides seine Taten getan,
seinen ungeheuren Willen vollbracht hat, / ergibt sich die Frage: W o z u
w a r das a l l e s ? In dem Augenblick, wo so gefragt wird, wird auch
schon die eigene Selbstgenugsamkeit verneint und eine höhere Ordnung
gesucht, die die unsrige in sich aufnimmt, die der unsrigen Sinn und Wert
verleiht. Mit d i e s e r F r a g e o r d n e t s i c h d a s I n d i v i d u u m
d e r W e l t o r d n u n g u n t e r . Diese Frage ist, religiös ausgedrückt,
die Flucht zur Gottheit, das Aufgeben des Selbstischen als eines Autarken.
Die Antwort gibt Sophokles’ „Oedipus auf Kolonos“, der, nachdem er alle
seine Leiden durchmessen, mit den Worten endet: „Fest steht dies alles
und heilig.“
Die Aufgabe, die der Individualismus nicht lösen kann und die durch
seine Kritik jeder Gesellschaftserklärung vorgezeichnet wird, ist: Die
Anknüpfung zu finden des Einzelnen an das Ganze.
Eine eindringliche sachliche Widerlegung der Einzelheitslehre ergibt sich später bei der
Darstellung der Ganzheitslehre und ihrer politischen Grundsätze
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Siehe unten zweites Hauptstück, S. 125 ff., 148 ff. und 217 ff.