Previous Page  119 / 749 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 119 / 749 Next Page
Page Background

[93]

119

I. Logischer Relativismus

Der Begriff des selbstgenugsamen Einzelnen drängt in der Logik dazu,

das Denken dieses Einzelnen gleichfalls als ein souveränes zu betrachten.

„Wahr ist, was ich für wahr halte.“ So würde in seiner schärfsten Form

dieser Gedanke lauten, den der griechische Sophist Protagoras bekanntlich

in den Satz kleidete: „der (einzelne) Mensch ist das Maß aller Dinge“.

Diese schroffe Form kann man als „logischen Subjektivismus“ bezeichnen,

weil hier alles dem Subjekt anheimgegeben wird

1

.

II. Sittlicher Relativismus

Einen ähnlichen Vordersatz gibt der Begriff des selbstwüchsigen

Einzelnen in der Sittenlehre ab. Auch hier drängt er zur Folgerung:

„Sittlich ist, was dem Einzelnen sittlich angemessen erscheint“; auch hier

kann der Gedanke im Sinne eines reinen Subjektivismus gefaßt oder auf

allgemeinere Umkreise, Kulturen und Zeiten beschränkt und zu einer

gemäßigten Form, einem sittlichen Relativismus, gebracht werden.

Es ist aber nötig, hier festzustellen, daß der Individualismus weder in

sittlicher noch in logischer Hinsicht zum Relativismus oder gar

Subjektivismus werden m u ß . Von sich aus drängt er wohl dazu, ja gibt

er einen eindeutigen Vordersatz für den relativistischen Schlußsatz ab.

Aber von andern Gedankengängen her, nämlich von der

Erkenntnistheorie oder von der Metaphysik oder von der Religion her,

können diese Gedanken durchkreuzt werden. So hat K a n t , der im

Grunde Individualist ist, in der Erkenntnistheorie allen logischen

Relativismus endgültig besiegt, indem er ein Apri- ori — in Anschauung

und Begriff — als die Form und Ordnung jeder Erfahrung nachwies und

damit einen festen Wahrheitsbegriff erlangte. Und ebenso hat Kant das

Sittliche als über der Willkür des Einzelnen wie auch der Zeit Stehendes

erklärt. Es ist also durchaus möglich, logischen und sittlichen Relativismus

abzulehnen und in

1

Uber „Individualismus“ und „Nominalismus“ siehe unten zweites und viertes

Hauptstück, S. 125 ff. und 253 ff.