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I. Logischer Relativismus
Der Begriff des selbstgenugsamen Einzelnen drängt in der Logik dazu,
das Denken dieses Einzelnen gleichfalls als ein souveränes zu betrachten.
„Wahr ist, was ich für wahr halte.“ So würde in seiner schärfsten Form
dieser Gedanke lauten, den der griechische Sophist Protagoras bekanntlich
in den Satz kleidete: „der (einzelne) Mensch ist das Maß aller Dinge“.
Diese schroffe Form kann man als „logischen Subjektivismus“ bezeichnen,
weil hier alles dem Subjekt anheimgegeben wird
1
.
II. Sittlicher Relativismus
Einen ähnlichen Vordersatz gibt der Begriff des selbstwüchsigen
Einzelnen in der Sittenlehre ab. Auch hier drängt er zur Folgerung:
„Sittlich ist, was dem Einzelnen sittlich angemessen erscheint“; auch hier
kann der Gedanke im Sinne eines reinen Subjektivismus gefaßt oder auf
allgemeinere Umkreise, Kulturen und Zeiten beschränkt und zu einer
gemäßigten Form, einem sittlichen Relativismus, gebracht werden.
Es ist aber nötig, hier festzustellen, daß der Individualismus weder in
sittlicher noch in logischer Hinsicht zum Relativismus oder gar
Subjektivismus werden m u ß . Von sich aus drängt er wohl dazu, ja gibt
er einen eindeutigen Vordersatz für den relativistischen Schlußsatz ab.
Aber von andern Gedankengängen her, nämlich von der
Erkenntnistheorie oder von der Metaphysik oder von der Religion her,
können diese Gedanken durchkreuzt werden. So hat K a n t , der im
Grunde Individualist ist, in der Erkenntnistheorie allen logischen
Relativismus endgültig besiegt, indem er ein Apri- ori — in Anschauung
und Begriff — als die Form und Ordnung jeder Erfahrung nachwies und
damit einen festen Wahrheitsbegriff erlangte. Und ebenso hat Kant das
Sittliche als über der Willkür des Einzelnen wie auch der Zeit Stehendes
erklärt. Es ist also durchaus möglich, logischen und sittlichen Relativismus
abzulehnen und in
1
Uber „Individualismus“ und „Nominalismus“ siehe unten zweites und viertes
Hauptstück, S. 125 ff. und 253 ff.