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Zweigesichtigkeit oder „Gezweitheit“ des eigenen Schaffens ist eine
unerläßliche Bedingung alles geistigen Hervorbringens, damit alles
geistigen Lebens überhaupt.
F.
B e i s p i e l e a u s d e r G e s c h i c h t e
g r o ß e r M ä n n e r
Nicht nur die innere Erfahrung jedes Menschen bewahrheitet, was wir
eben erkannt haben, auch die Geschichte großer Männer zeigt deutlich
dasselbe Bild. Sokrates-Platon, Platon-Aristoteles zeigen das Verhältnis
von Freund zu Freund, das Verhältnis von Lehrer und Schüler, zeigen ihre
Gedankenwelt als „objektiven Geist“, der in einer lebendigen
B e z u g n a h m e von Freund und Gefreundetem, von Geber und
Nehmer, von Schöpfer und Nachfolger, von Schöpfer und kritischem
Umbildner seinen Grund und Boden fand.
Goethes und Schillers Briefwechsel läßt ein Gleiches erkennen. Er ist
nicht ein „Meinungsaustausch“, wie die Individualisten glauben, die von
dem inneren Leben des Geistes keine Ahnung haben, sondern in ihm sehen
wir einen für beide Menschen erweckenden geistigen Prozeß vor uns.
Goethe selbst sprach sich 1825 zu Eckermann darüber deutlich genug aus.
Wir wollen ihn ausführlich zu Worte kommen lassen:
„Man spricht immer von Originalität, allein was will das sagen! So wie wir geboren
werden, fängt die Welt an auf uns zu wirken und das geht so fort bis ans Ende. Und überall!
was können wir denn unser Eigenes nennen, als die Energie, die Kraft, das Wollen! — Wenn
ich sagen könnte, was ich alles großen Vorgängern und Mitlebenden schuldig geworden bin,
so bliebe nicht viel übrig.“
„Hierbei aber ist es keineswegs gleichgültig, in welcher Epoche unseres Lebens der
Einfluß einer fremden bedeutenden Persönlichkeit stattfindet.“
„Daß Lessing, Winckelmann und Kant älter waren als ich und die beiden / ersteren auf
meine Jugend, der letztere auf mein Alter wirkte, war für mich von großer Bedeutung.“
„Ferner: daß Schiller so viel jünger war und im frischesten Streben begriffen, da ich an
der Welt müde zu werden begann; ingleichen daß die Gebrüder von Humboldt und Schlegel
unter meinen Augen aufzutreten anfingen, war von der größten Wichtigkeit. Es sind mir
daher unnennbare Vorteile entstanden.“
Und 1832: „Im Grunde aber sind wir alle kollektive Wesen, wir mögen uns stellen, wie
wir wollen. Denn wie Weniges haben und sind wir, das wir im reinsten Sinne unser Eigentum
nennen! Wir müssen alle empfangen und lernen, sowohl von denen, die vor uns waren, als
von denen, die mit uns sind. Selbst