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II. Zusammenfassung. Das Wesen der Gezweiung
In jedem Verhältnis, das wir betrachteten, sahen wir den menschlichen
Geist nicht als einen selbstwüchsigen, sondern, wie wir es ausdrückten,
stets als erweckten, angeregten, angefachten, angezündeten, als lumen de
lumine; und der andere Geist erschien als die anzündende Fackel, als das
strahlende Licht der Finsternis, als der G e b u r t s h e l f e r für das
Werden des eigenen Geistes.
Ein einziger Blick, ein gesprochenes Wort des andern, des Gegengliedes
in jeder Gemeinschaft, ist imstande, eine ganze Welt in unserem Geiste aus
dem Nichts hervorzuzaubern; ein solcher Blick, ein solches Wort des
Gefreundeten ist dann gleichsam Geist gewordener Blich, gefrorenes
Wort, G e s c h a f f e n e s in unserem Geiste. Und es gilt, was von aller
Schöpfung: καί ό
λόγος σάρξ έγένετο
„und das Wort ist Fleisch
geworden“. Der Freund ist in unser Selbst, unser Ich übergegangen, sein
Geist wurde in den unseren gleichsam hineingebildet und ist Fleisch
geworden. Der Gefreundete ist für den Freund, ob Führer oder nur
Nachfolger, ob Schöpfer oder Aufnehmer, stets der Lebendigmacher
(vivificator), ist der Jupiter impulsor (Antreiber), ist der Anstachler, der die
geistigen Kräfte im Freunde erregt, er ist der Pflug, der unseren Acker
aufreißt und befruchtet, wie schon die alten Pythagoräer wußten, nach
dem uralten Spruche
„
αλλος φίλος έγώ“
“,
das heißt der Gefreundete ist
das andere Ich, mein zweites Ich
1
. Eine andere Pythagoräische Lehre
lautet: Wie die Harmonie auf einer Mehrheit von Tönen, die Figur auf
einer Mehrheit von Linien, der Körper auf einer Mehrheit von Flächen
beruht, so die Welt auf einer Mehrheit von Wesen
2
. (Mehrheit hat hier
den Sinn von „Gliederung“.)
Man prüfe die urälteste Weisheit, die uns erhalten ist, seien es die
indischen Upanischaden, die chinesische Philosophie des Laotse und
Kungfutse, die Lehren der altgriechischen Philosophie oder auch der
neuen deutschen klassischen Philosophie von Fichte bis Hegel, überall /
werden wir die Einsicht finden, daß der A n d e r e der Schatzgräber des
Ich ist, gleich dem Rutengänger, dessen Wün
1
Siehe Otto Willmann: Empirische Psychologie, 3. Aufl., Freiburg i. B. 1913, S. 172.
2
Otto Willmann: Geschichte des Idealismus, 3 Bde, Bd 1: Vorgeschichte und Geschichte
des antiken Idealismus, 2. Aufl., Braunschweig 1907.