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höheren Ganzen enthalten sein, nicht aber einförmige Eigenzugehörig- /
keit, leere Eingeschränktheit in sich, nicht homogene Alleinheit (Solität);
das ist das Wesen der Glieder des Selbstes: Gliedhaftigkeit zu
verkörpern und in dieser Gliedhaftigkeit sowohl ein Eigenes, Selbstisches,
Besondertes zu sein, wie ein Spiegel und die Blume der Ganzheit. Das
Glied ist Ebenbild des Ganzen.
Darum ist Gemeinschaft der Lebenshauch unserer Seele, ohne welchen
unser ganzes Dasein in nichts zerfallen müßte; die Vereinzelung aber, die
das Leben von der Selbstwüchsigkeit des Geistes aus gestalten möchte,
eine Gefahr, ohne deren Überwindung kein Zeitalter zu einer großen
Kultur kommen und kein Mensch selig werden kann.
III. Universalistische Vorbilder
Bei der Darstellung des Individualismus haben wir nach Bildern und
Stichworten gesucht, die uns sein Wesen in sinnbildlicher und doch
lebendiger Gestalt vor Augen führen sollten. Das gleiche wollen wir nun
für den Grundgedanken des Universalismus, die Ganzheit des Geistigen
der Gesellschaft, versuchen
1
.
Der Einzelne ist nach ganzheitlicher Auffassung nicht Für-sich-
Bestehen, sondern Mit-Bestehen, Mit-Sein (geistig verstanden). Nur im
Zusammen-Bestehen mit anderen bestehe ich selber, so sagt die
Ganzheitslehre. Für das Für-Sich-Bestehen sahen wir die Gestalt des
Prometheus mit seinem Trotz gegen Gott und die Welt ein Beispiel bieten.
Dieser Wahngestalt stellen wir universalistisch eine andere entgegen, die
des Eros, der mit seinem Anteros lebt und stirbt. Nach der Sage konnte
Eros nicht wachsen, bis seine Mutter noch einen Sohn, den Anteros,
geboren, worauf beide schnell zugenommen. Eros und Anteros, Liebe und
Gegenliebe, können nur miteinander leben, wachsen und gedeihen oder
untergehen. Gleiches finden wir in der Edda, wo Nanna stirbt, nachdem
Baldur gestorben. Geist und Gegengeist, Gedanke und Erwiderung, Gefühl
und Widerhall — immer zwei Dinge, die miteinander, die als Glieder
1
Das folgende zum Teil nach meinem Buch: Der wahre Staat, 2
.
Aufl., Leipzig 1923, S. 41
f. [4. Aufl., Jena 1938, S. 38 f.].