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dualistischen Denkweise, daß der menschliche Geist ein Einzelner an sich
sei, der gleichsam erst nachträglich (nachdem er schon ist) und freiwillig
(aus Willkür) eine Verbindung, eine „Beziehung“ mit anderen zu seinem
Nutzen eingeht. Nein, der menschliche Geist ist nur als Glied einer
geistigen Gemeinschaft wirklich. Geistiges Sein und Leben heißt:
Selbstsein durch Sein im andern. Wie die Weltesche ihre Wurzeln durch
alle Himmel verbreitet, so verbreitet der menschliche Geist seine Wurzeln
in allen anderen Geistern der Gegenwart und der Vergangenheit.
Nun erhebt sich vor allem die Frage: ist das Gezweiungsverhältnis der
Menschen zueinander selbst schon Liebe?; führt die universalistische
Theorie die Gesellschaft allein auf Liebe und deren Formen (Mitleid,
Mitfreude und anderes mehr) zurück? Nein, Gegenseitigkeit des
Verhältnisses der Menschen ist nicht einerlei mit Liebe, nicht selber Liebe,
denn diese Gegenseitigkeit kann auch in Abstoßung, Widerspruch,
Zurückweisung, ja in Haß und Verachtung bestehen. Liebe zu Menschen
ist nämlich hier nicht Selbstzweck, ebensowenig wie die negativen
Verhältnisse, sondern beides ist nur eine Strukturform im Leben des
objektiven Geistes. Wie in der Natur nicht alles Licht, kann in der
Gesellschaft nicht alles Liebe sein, nicht nur aus Unvollkommenheit der
Menschen, sondern aus wesenhaftem Baugesetze. Auch jene negativen
Verhältnisse werden notwendig schöpferische Eigenschaften haben, sei es
in aufbauender Entfaltung des Eigenen zur erfolgreichen Entgegensetzung,
sei es in der wesenhaften Unterdrückung und Rückbildung des gehaßten
seelischen Elementes in sich selber, sei es endlich nur in der leibhaftigen
kenntnismäßigen Nachbildung des Negativen in sich zur „Abschreckung“.
Liebe, im Sinne des aufbauenden Miterlebens, der bejahenden
Anteilnahme, die Eigenes nach Fremdem (dem Geliebten) bildet, ist
allerdings immer die bedeutendste Erscheinungsform geistiger
Gezweiungen. Aber das Wesen der Gesellschaft ist nicht Liebe, sondern
ein unaufhörliches geistiges Werden, Wachsen und Leben, sei es auch in
Gegensätzen und Rückbildungen.
Das ist das Wesen des Geistes: Selbstsein durch Sein im andern, nicht
aber Selbstsein durch Beruhen in sich selber;
das ist das Wesen wahren Selbstseins: Eine Welt in sich sein, in der
Fülle der eigenen Glieder als ein Ganzes und doch in einem
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