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tivem wird; und nicht wir bilden ihn (durch „Zusammensetzung“ aus
unseren Eigenschaften), sondern er bildet uns, indem er neue
Eigenschaften, neue Ziele, neues Wollen in uns lebendig macht.
Ein lehrreiches Beispiel einer verdeckt individualistischen Betrachtungsweise geistiger
Gemeinschaft bildet S i m m e l s Untersuchung über die „Soziologie der Geselligkeit“, auf
die ganz ausnahmsweise hier hingewiesen sei
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. Das Wesen der Geselligkeit kennzeichnet
Simmel als eine S p i e
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f o r m der Vergesellschaftung zum Unterschied von jenen
Vergesellschaftungen, die sich in den wirklichen / Lebensinhalten, wie Wirtschaft, Familie,
Politik, Kunst, bilden. Die Geselligkeit löst, sagt Simmel, aus den Realitäten des sozialen
Lebens die F o r m des Miteinander heraus. In ihr wird Gesellschaft nur gespielt. Simmel
erklärt daraus sowohl ihren Hang zur Förmlichkeit und Etikette, wie auch zum
Oberflächlichen.
Diese völlig verfehlte Zergliederung Simmels scheint mir ganz die Nachteile seines
Verfahrens (der „Wechselwirkungsformen“) aufzudecken. Wer könnte ernstlich glauben,
daß das Geselligkeitsleben eine „Spielform“ sei, daß Oberflächlichkeit und hohle Form
notwendig zu ihm gehören? Diese Oberflächlichkeit gehört eher jenen Menschen selbst zu.
Aber die Geselligkeit als Quell und Born geistiger Nahrung, als eine Sphäre des Erlebens
anderer Menschen, der Liebe, der Mitteilung von Kenntnissen, der wissenschaftlichen
Erörterung, gegenseitiger geistiger Wettkämpfe — ist ein eigenes, autogenes Gebiet geistiger
Gemeinschaft und Zweckverfolgung. Dabei ist von der Geselligkeit als Träger verschiedener
sozialer Verrichtungen, z. B. politischer, pädagogischer, noch abgesehen. Wenn Simmel auf
die Gesellschaftskunst des Ancien Regime verweist, so möchte ich es für richtiger halten, das
Wesentliche in solchen Darstellungen der Geselligkeit zu erblicken, wie sie uns in Novalis’
„Heinrich von Ofterdingen“, in Platons „Symposion“ gegeben werden. War das Ancien
Regime wirklich „spielerisch“, dann war es das im Leben.
D. Die F a m i l i e
In der Familie ist es unter anderem das Verhältnis der Eltern zu den
Kindern, welches das Geistige der Menschen bestimmt. Es wäre ganz
verfehlt, sich die Familie, sofern sie ein geistiges Ganzes (ein geistiger
Verband) ist, so vorzustellen, als ob jeweils schon b e s t i m m t e (also in
diesem Sinne fertige, festgelegte) geistige Individualitäten die Familie
bildeten: Der Vater, die Mutter, das Kind. Davon ist keine Rede. Sondern
die geistigen Verhältnisse, welche in der „Familie“ (als einer
Unterganzheit im Aufbaue der Gesellschaft) ausgegliedert sind, sie erst
bilden und schaffen den Geist ihrer Mitglieder. Sie geben dem Vater die
Väter
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Verhandlungen des ersten deutschen Soziologentages, Tübingen 19 11 (= Schriften der
deutschen Gesellschaft für Soziologie, Bd 1).