Previous Page  140 / 749 Next Page
Information
Show Menu
Previous Page 140 / 749 Next Page
Page Background

140

[110/111]

Und endlich das Verhältnis des schöpferischen K ü n s t l e r s zu den

anderen Menschen als Kunstgenießern. Hier könnte man einwenden, daß

das künstlerische Genie aus sich selbst und allein schaffe. Wer ein Drama

schreibt, tut dies in seiner stillen Klause und folgt innerem Zwange

(wovon z. B. Grillparzers „Ahnfrau“ Zeugnis ablegt). Dies ist nun wohl

unbestreitbar, aber man wird doch zugeben müssen, daß Grillparzer

ebenso wie Goethe seine Werke nie geschrieben hätte, wenn er hätte

annehmen müssen, daß sie nie gelesen noch aufgeführt noch je ein Wort

von ihnen verstanden würde. Ohne irgendeinen (wenigstens künftigen,

gedachten) Zuschauer, Leser, Versteher, Kritiker, ohne irgendein geistiges

Gegenglied ist es vollkommen unmöglich, daß er die Kraft solcher

Versenkung fände, das Feuer solcher Hervorbringung entfachte. Auch der

vereinsamte Künstler hofft und glaubt noch immer aus tiefster Seele, daß

andere bedeutende Menschen ihn verstehen und würdigen werden. Er

hofft auf Zuhörer und Leser. Wenn den Meister Beethoven am Ende

seiner Neunten Symphonie der Gedanke überfallen hätte, daß nie ein

menschliches Ohr auch nur einen einzigen dieser Töne wahrnehmen

werde, dann hätte er nicht einmal mehr die Kraft gefunden, die letzte

Note zu schreiben oder den letzten Punkt unter die letzte Note zu setzen.

Goethe hat dies klar in folgendem Spruche ausgedrückt:

„Was wär’ ich ohne dich, Freund Publikum?

All’ mein Gedanke Selbstgespräch,

All’ mein Empfinden stumm.“

/

In diesen Worten Goethes ist der ganze Lehrbegriff des Universalismus

enthalten. Zuerst wird die Frage gestellt: „Was wär’ ich ohne dich . . . ? “

— Dann die schreckliche Erkenntnis: Dann wäre ja all mein Denken

Selbstgespräch! — Endlich das vernichtende Ergebnis: Dann wäre auch

mein Empfinden stumm! Das heißt aber nichts Geringeres als ein

Einschrumpfen des eigenen geistigen Daseins, ein Versinken der geistigen

Wirklichkeit in das Nichts.

Blicken wir auf alle die verschiedenen Beispiele zurück, so dürfen wir

sagen: Ohne Anteilnahme anderer (ohne „Interesse“) gibt es kein

künstlerisches Schaffen, kein geistiges Schaffen überhaupt; ein anderes

geistiges Schaffen als ein angeregtes, entzündetes ist nicht möglich; die

Hinwendung zu einem Zweiten, die darin liegende